Vor über hundert Jahren zählen Frauen noch nicht zum "Volk", zu den gleichberechtigten Bürgern. Auch heute dürfen über eine Million in Österreich lebende Menschen nicht wählen.

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Der lange Kampf um die politische Teilhabe von Frauen war mit dem 12. November 1918 gewonnen. Die Wahlordnung solle künftig, so hieß es in dem Gesetz über die Staats- und Regierungsform der Ersten Republik, auf dem allgemeinen, gleichen und direkten Stimmrecht "aller Staatsbürger ohne Unterschied des Geschlechts" beruhen. Die Frauen waren unter "Staatsbürger" somit erstmals mitgemeint. Und sie ließen sich nicht zweimal bitten: Bei der ersten Wahl mit neuem Stimmrecht im Jahr 1919 lag die Wahlbeteiligung der Frauen bei 82,1 Prozent, bei Männern war sie mit 87 Prozent nur geringfügig höher.

Das Recht gehe "vom Volk aus", so heißt es im ersten Artikel der österreichischen Bundesverfassung. Die Frage danach, wer dieses Volk ist, wer dazugezählt wird und wer nicht, ist auch 100 Jahre nach dem großen demokratiepolitischen Schritt offen. Schon damals zählten trotz des eben beschlossenen Frauenwahlrechts nicht alle Frauen zum "Volk". Sexarbeiterinnen durften erst 1920 wählen, davor waren sie der "Sittlichkeit" wegen ausgeschlossen.

"Der Grundgedanke der Demokratie ist, dass diejenigen, die von politischen Entscheidungen betroffen sind, auch am Zustandekommen dieser Entscheidungen mitwirken sollen", sagt Gerd Valchars, Politikwissenschafter an der Uni Wien. Seit 1918 wurde das Wahlrecht auch über das Frauenstimmrecht hinaus immer inklusiver. Zuerst wurde es vom Einkommen, Stand, Besitz und Geschlecht entkoppelt und an die Staatsbürgerschaft geknüpft. Hinzu kam eine schrittweise Senkung des Wahlalters, zuletzt von 18 auf 16 Jahre, oder die Ausweitung der Briefwahlmöglichkeit aus dem Ausland. Doch die Verknüpfung des Wahlrechts mit der Staatsbürgerschaft beschert Österreich seit Jahren eine sinkende Zahl an Wahlberechtigten – bei steigender Bevölkerungszahl.

In Österreich lebten heuer im Jänner 1.151.423 Personen über 16 Jahre ohne österreichische Staatsbürgerschaft. Die Hälfte kommt aus EU-Ländern, der Rest aus Drittstaaten. Insgesamt wurden fünfzehn Prozent aus diesen Gruppen in Österreich geboren, 40 Prozent leben seit zehn Jahren oder länger in Österreich und 56 immerhin mehr als fünf Jahre. Obwohl sie somit ihr bisheriges Leben oder zumindest viele Jahre in Österreich verbringen und auch dem hiesigen politischen System unterworfen sind, dürfen sie nicht wählen.

Für Valchars ist das "ein demokratiepolitisches Problem", und zwar eines mit weitreichenden Konsequenzen. Jugendliche würden von Rechts wegen mit 16 Jahren plötzlich "zu anderen" gemacht, kritisiert Valchars, womit etwa politische Bildung völlig ins Leere laufe. "Was interessiert mich das – ich darf schließlich nicht wählen", würden sich Jugendliche durchaus mit Berechtigung fragen. Mit dem Ausschluss vom Wahlrecht würden ihnen auch vermittelt werden, dass man sich weder für ihre Meinung noch für ihre politischen Präferenzen interessiere. "Das hat einen stark desintegrativen Charakter", sagt Valchars.

Hinzu komme das System des Wähler- und Wählerinnenmarktes: "Eine Partei macht keine Politik für eine Gruppe, die politisch keine Stimme hat", so Valchars. So könnten die politischen Interessen einer Gruppe ignoriert werden, ohne dass diese Gruppe eine Partei für ihre Politik gegen sie politisch bestrafen kann.

Ohne Pass, mit Stimme

Immer wieder kritisieren dies Menschenrechtsorganisationen mit verschiedenen Initiativen. So wollte etwa das Frauenvolksbegehren im Vorfeld der Eintragungswoche Anfang Oktober ein Zeichen gegen den "Demokratieausschluss" setzen. Gemeinsam mit SOS Mitmensch forderte das Frauenvolksbegehren unter dem Stichwort "Pass egal" auch Menschen ohne österreichischen Pass zur Unterschrift auf. 1.801 Personen sind dem Aufruf gefolgt. Hätte ihre Stimme Gültigkeit, wäre somit das Frauenvolksbegehren dem Ziel der AktivistInnen, 600.000 Unterschriften zu sammeln, nochmal ein Stück näher gekommen.

SOS Mitmensch hat schon im Vorfeld der Nationalratswahl im Oktober 2017 "Pass-egal-Wahlen" veranstaltet. 1.896 Menschen ohne österreichischen Pass stimmten über ihre Parteienpräferenz ab. Das Ergebnis sah wenige überraschend anders als das bei den Nationalratswahlen aus: 37,24 Prozent stimmten für die SPÖ, 32,44 für die Grünen, ÖVP und FPÖ brachten es gemeinsam nur auf sieben Prozent. Es sei zwar nur eine symbolische Wahl gewesen, hieß es von der NGO, dennoch zeige es ein "politisches Stimmungsbild jener Menschen, die ein Zeichen für ein inklusivere Demokratie setzen wollen".

Wenn Österreich allerdings an dem strengen Staatsbürgerschaftsrecht, das einen mindestens zehnjährigen rechtmäßigen und ununterbrochenen Aufenthalt vorsieht, trotz der demografischen Entwicklung festhält, wird das Wahlrecht nicht inklusiver, sondern exklusiver – und schmälert den politischen Einfluss von Frauen, von ArbeiterInnen und auch Jugendlichen. Für die schlechtere Repräsentation von Frauen mit Migrationshintergrund sei das Einkommenskriterium für die Einbürgerung mitverantwortlich, erklärt Valchars. "Einerseits haben wir dieses, übrigens sehr hohe, Einkommenskriterium, andererseits zeigt der Gender-Pay-Gap, dass es Frauen schwerer haben, ein gewisses Einkommen zu erwirtschaften." Diese Kombination verringere die Chancen auf eine Einbürgerung.

Die unterwienerte WählerInnenschaft

Doch die Konsequenzen eines Ausschlusses vom Wahlrecht treffen letztlich alle – auch Männer mit österreichischem Pass, betont Valchars. In Österreich leben 21 Prozent WienerInnen und 19 Prozent NiederösterreicherInnen – bei den Wahlberechtigten aber liegt Niederösterreich vor Wien, denn in Wien ist der Anteil von NichtstaatsbürgerInnen höher. Valchars: "Wir haben eine unterwienerte und eine überniederösterreicherte WählerInnenschaft."

Was für Frauen vor hundert Jahren mit der Anbindung des Wahlrechts an die Staatsbürgerschaft ein großer demokratiepolitischer Fortschritt war, lässt somit heute die potenzielle WählerInnenschaft schrumpfen. Ändern ließe sich das mit einem inklusiveren Staatsbürgerschaftsrecht, das auf ein Einkommenskriterium verzichtet und die Fristen zur Einbürgerung kürzt. Eine andere Möglichkeit wäre, führt Valchars aus, dass das Wahlrecht nicht ausschließlich mit der Staatsbürgerschaft, sondern mit einem dauerhaften Wohnsitz verknüpft wird. In Irland, in den Niederlanden, Luxemburg und den skandinavischen Ländern ist dies bereits Praxis, und zumindest auf kommunaler Ebene haben so auch Nicht-Staatsangehörige ein Wahlrecht.

"Durch die aktuellen Entwicklungen der europäischen Integration und einer veränderten Migration zeigt sich, dass die Staatsbürgerschaft ein viel zu träger Anknüpfungspunkt für das Wahlrecht ist, um mit der heutigen globalisierten Welt mithalten zu können", ist Valchars überzeugt. (Beate Hausbichler, 11.11.2018)