Angela Merkel warnt: "Wir leben nicht in der Endphase der Pandemie, sondern immer noch an ihrem Anfang."

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Berlin – Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hat das Vorgehen einzelner Bundesländer bei der Aufhebung von Beschränkungen in der Corona-Kris scharf kritisiert. Die Umsetzung der Öffnungsbeschlüsse von Bund und Ländern der vergangenen Woche wirke auf sie "in Teilen sehr forsch, um nicht zu sagen zu forsch", sagte Merkel am Donnerstag in ihrer ersten
Regierungserklärung zur Corona-Krise im Bundestag.

Welche Länder sie meinte, sagte Merkel nicht. Sie bereitete die Deutschen auf noch langanhaltende Beschränkungen vor und rief sie zum Durchhalten auf.

"Ausdauer und Disziplin aufbringen"

"Wenn wir gerade am Anfang dieser Pandemie die größtmögliche Ausdauer und Disziplin aufbringen, dann werden wir in der Lage sein, schneller wieder wirtschaftliches, soziales und öffentliches Leben zu entfalten, und zwar nachhaltig", sagte Merkel. Mit Konzentration und Ausdauer gerade am Anfang könne man vermeiden, vom einen zum nächsten Shutdown zu wechseln.

Sie trage die Beschlüsse von Bund und Ländern aus der vergangenen Woche aus voller Überzeugung mit. "Doch ihre Umsetzung seither bereitet mir Sorgen", fügte sie hinzu. "Lassen Sie uns jetzt das Erreichte nicht verspielen und einen Rückschlag riskieren."

Nordrhein-Westfalen will weitere Lockerungen

Bund und Länder hatten am 15. April unter andere beschlossen, dass seit Montag dieser Woche Geschäfte bis zu einer Fläche von 800 Quadratmetern wieder öffnen können. Die strikten Kontaktbeschränkungen wurden aber bis mindestens Anfang Mai verlängert. Vor alle Nordrhein-Westfalen-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU, wie Merkel) strebt weitere Lockerungen an, etwa Sportangebote für Jugendliche oder das Öffnen von Kindertagesstätten, Spielplätzen und Schulen.

Merkel: Noch am Anfang der Pandemie

"Ich verstehe, dass dieses Leben unter Corona-Bedingungen allen schon sehr, sehr lange vorkommt", sagte Merkel. Niemand höre es gerne, aber es sei die Wahrheit: "Wir leben nicht in der Endphase der Pandemie, sondern immer noch an ihrem Anfang. Wir werden noch lange mit diesem Virus leben müssen." Die Frage, wie man verhindere, dass das Virus das Gesundheitssystem überwältige und unzähligen Menschen das Leben koste, werde noch lange die zentrale Frage für die Politik in Deutschland und Europa sein.

Ihr sei bewusst, wie schwer die Einschränkungen alle individuell, aber auch die Gesellschaft belasteten. "Diese Pandemie ist eine demokratische Zumutung, denn sie schränkt genau das ein, was unsere existenziellen Rechte und Bedürfnisse sind", sagte Merkel.

Die Zahlen der Neuerkrankungen und Genesungen seien ein Zwischenerfolg, das Gesundheitssystem halte der Bewährungsprobe bisher Stand, sagte Merkel. "Aber gerade weil die Zahlen Hoffnungen auslösen, sehe ich mich verpflichtet zu sagen: Dieses Zwischenergebnis ist zerbrechlich. Wir bewegen uns auf dünnem Eis, man kann auch sagen: auf dünnstem Eis." Heutige Zahlen sagten nichts darüber aus, wie es in einer oder zwei Wochen aussehe, wenn man zwischendurch deutlich mehr Kontakte zulasse.

Volle Unterstützung für die WHO

Der Weltgesundheitsorganisation sicherte Merkel volle Unterstützung zu. "Die WHO ist ein unverzichtbarer Partner, und wir unterstützen sie in ihrem Mandat", sagte sie. US-Präsident Donald Trump hatte das Agieren der WHO in der Corona-Krise scharf kritisiert und die Streichung der finanziellen Mittel angekündigt. Dafür ist er international scharf kritisiert worden.

Vor dem EU-Gipfel zur Bekämpfung der Pandemie und ihrer Folgen am Nachmittag sprach sich Merkel erneut gegen die Aufnahme von Schulden mit gemeinschaftlicher Haftung in der EU zur Bewältigung der Krise aus. Für einen solchen Schritt müssten alle Parlamente der Mitgliedstaaten entscheiden, dass ein Teil der Budgethoheit an die EU übertragen werde. Dies sei zeitraubend. (APA, 23.4.2020)