Das heute verwüstete, vormals idyllische Flussufer der Ahr lässt erahnen, welch brutale Kräfte hier gewütet haben.

Foto: Barthelme

"Nicht!", ruft Marion Lehmann. "Nicht weitergehen! Einsturzgefahr!" Dabei ist das, wo in Ahrbrück die Linder Straße auf die Hauptstraße trifft, doch schon alles ein- und abgestürzt. Zwei Häuser standen an der Ecke – jetzt sind sie weg. "Vor meinen Augen", schildert Marion Lehmann, "sind sie weggetrieben worden. Mit den Menschen darin." Sie zittert nicht, auch ihre Stimme ist fest. Aber das heißt nicht, dass sie nichts fühlt – nur dass das alles für sie allein durch inneren Abstand auszuhalten ist.

Zu Mittag fährt die Notfallseelsorge durchs Dorf, ein dunkles Auto mit weißem Dreieck auf dem Dach und roter Schrift. Marion Lehmann hat schon genug geredet, mit den Nachbarn, die noch da sind, über das Schicksal der anderen. Sie schaufelt jetzt Schlamm und Schutt aus ihrem Haus, kippt den Dreck vor die Kirche zu all dem, was da schon liegt: Asphaltbrocken. Bäume. Viel Schlamm. Und die Kirchenbänke.

Verwüstete Kirche

St. Andreas steht jetzt direkt an der Ahr. Bis zur Flut vor einer Woche hat eine Wiese die Kirche umgeben. Das Wasser hat alles fortgerissen. Das Gotteshaus und das Pfarrhaus stehen womöglich nur noch deshalb, weil die zwei Häuser, die nicht mehr da sind, der Ahr ein wenig Kraft genommen haben.

Aber verschont hat die Flut St. Andreas nicht. Durch alle Fenster drückte sie sich von den Seiten ins Kirchenschiff und durch die beiden Portale wieder hinaus.

Die Kirche St. Andreas hatte Glück im Unglück.
Foto: Barthelme

Das Technische Hilfswerk (THW) aus Bad Wildungen in Hessen bricht gerade die Scherben aus den Fensterrahmen, damit sich niemand verletzt. Mehr, sagt der Einsatzleiter, könnten sie im Moment nicht tun.

Seit Tagen wird der Landkreis Ahrweiler kritisiert: Man schaffe es nicht, die Hilfskräfte zu koordinieren. In Ahrbrück, das zehn Kilometer flussabwärts liegt vom inzwischen weltbekannten Dorf Schuld, sagt Marion Lehmann, das sei alles wahr, aber zu generell. Sie preist die örtliche Feuerwehr, die in der Flutnacht niemanden im Stich gelassen habe: "Der Einsatzleiter hat das sofort als Katastrophe erkannt."

In Ahrbrück ist zu erleben, warum es diese Vorwürfe gibt. THW, Feuer- und Bundeswehr, Rotes Kreuz und Privatleute – das ganze Dorf ist voller Menschen, die nur eines wollen: helfen. Aber eigentlich ist das Dorf bloß verstopft. Aus allen Regionen der Republik sind sie da, mit Einsatz- und Mannschaftswagen, mit schwerem Gerät. An jeder Ecke stehen Gruppen und Grüppchen und warten darauf, dass sie loslegen können. Und sie warten nach ihrer Vorstellung zu lang und zu oft.

Marion Lehmann hat auch gewartet, als der Starkregen kam – vergeblich. "Keine Radiowarnung, keine Sirene. Nichts." Es habe geheißen, Schuld werde evakuiert. Und da habe sie sich gedacht: "Wenn dort die Katastrophe ist, was wird dann bei uns erst geschehen?"

Marion Lehmann wurde nicht gewarnt.
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Kampf ums Überleben

Sie hat keine Worte dafür. Sie kann zwar von den Häusern erzählen, die die Ahr weggerissen hat. Und von den Menschen darin. Es heißt, ein Vater und sein Sohn hätten sich acht Stunden lang irgendwo festgeklammert und überlebt. Vom zweiten Kind wisse man nichts. Die Mutter aber habe nach fünf Stunden die Kraft verlassen. Sie musste loslassen.

Plötzlich steht ein Soldat in St. Andreas, Tarnanzug, graues Haar. Sein Gesicht verrät, wie sehr er um Fassung ringt. Er sei Arzt, sagt er. Es habe ihn in die Kirche gezogen. Er muss mit den Lidern die Tränen wegzwinkern dabei. Aber wen quälen all diese Eindrücke denn nicht? Wer kann an der Ahr entlangfahren, ohne das Wort "Apokalypse" im Sinn zu haben? Schuld ist kein Einzelfall, auch Ahrbrück nicht.

Soforthilfe dringend gebraucht

40.000 Menschen, sagt das Landratsamt, betreffe die Katastrophe direkt. Die kämpfen inzwischen schon nicht mehr nur mit den Folgen der Flut, mit dem Müll, den die Ahr angeschleppt und dann liegengelassen hat wie ein zorniges Kind sein zerstörtes Spielzeug. Sie kämpfen um Strom. Um sauberes Wasser. Und um das Gefühl, es gehe wirklich etwas weiter. Wenigstens mit der Soforthilfe, dem Geld, das Angela Merkel und Olaf Scholz und Malu Dreyer – Kanzlerin, Bundesfinanzminister und die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz – nicht nur einmal versprochen haben.

"Keine Polizei", wiederholt Marion Lehmann, "keine Sirene, keine Information." So saß sie in ihrem Haus, Strom weg, Taschenlampe an. Sie verständigte sich mit den Nachbarn per Lichtzeichen und hörte die Ahr gegen ihr Haus donnern, man sieht die Spuren eineinhalb Meter hoch an der Mauer. "Insgesamt sieben Meter fünfzig, es schwammen Container vorbei", schildert sie.

Ihr Haus hielt stand. "Seines aber nicht", sagt sie und deutet zu einem ihrer Nachbarn. Ihm hat die Ahr die ganze Seitenwand des Hauses weggerissen, man kann in jedes Zimmer hineinsehen – und durch eines auf der anderen Seite auch wieder hinaus. Doch das Haus steht noch.

Am Wochenende soll es wieder regnen. (Cornelie Barthelme aus Ahrbrück, 22.7.2021)