Feiert am Mittwoch ihren 75. Geburtstag: Elfriede Jelinek – hier in Ulrike Ottingers Film "Prater" (2007).
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Schreiben ist ein politisches Handwerk, das verrichtet gehört – und Elfriede Jelinek tut es. Die österreichische Nobelpreisträgerin ist die politisch entschiedenste Schriftstellerin, die dieses Land je hatte. Sie schreibt den Skandalen und Katastrophen der Gegenwart zügig hinterher und ist damit gewissermaßen auch immer: aktuell.

In den vergangenen Jahren hat Jelinek dieses öffentliche Reden vorzugsweise im Theater betrieben, dessen Darstellungsformen sie seit Jahrzehnten mit sogenannten Textflächen herausfordert. Vor wenigen Wochen erst kam das Pandemie-Stück Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen! am Burgtheater zur Aufführung. Und man darf zu Recht darüber grübeln, ob nicht auch der Kurz’sche Chat-Skandal inzwischen schon seine literarisierte Form annimmt.

Zum 75. Geburtstag, den sie am Mittwoch feiert, hat Jelinek Journalistenfragen höflich abgelehnt, Rückzug gehört spätestens seit der Nobelpreis-Ehre 2004 zu ihrem Modus Operandi. Seit damals verweigert die 1946 in Mürzzuschlag, dem Ferienort ihrer Kindheit, geborene Wienerin, Tochter eines Chemikers und einer aus dem Wiener Großbürgertum stammenden Mutter, öffentliche Auftritte. Sie ist dabei aber um nichts weniger eine öffentliche Stimme geblieben. Ihrer Produktivität tat der physische Rückzug jedenfalls keinen Abbruch. Im Gegenteil.

Unmittelbare Gegenwart

Die Schreibmanufaktur in der Hütteldorfer Vorstadt steht nie still. Jelineks eigene Webseite wurde zur Publikationsplattform, auf der sie alles rausballert, was nottut; neben ihren literarischen Texten, die dort als Preview erscheinen, sind dies auch Feuilletons und Stellungnahmen zu tagespolitischen Themen. Das Schreiben aus der unmittelbaren Gegenwart heraus, die Transformation des österreichischen Weltgeschehens in eine literarische Anschauung – nicht zuletzt darin liegt die Brisanz ihrer Literatur.

So war bereits Stecken, Stab und Stangl Mitte der 1990er-Jahre das rasende Echo auf die rassistisch motivierte Ermordung vier junger Roma im Burgenland. Mit den Jahren hat sich, scheint es, die Reaktionsgeschwindigkeit der Autorin noch gesteigert. Die Antwort auf die Medialisierung des Irakkriegs hieß 2003 Bambiland, die globale Finanzkrise 2008 packte sie in die Wirtschaftskomödie Die Kontrakte des Kaufmanns; die Jahre mit Donald Trump beschrieb sie in Am Königsweg.

Stimme für die Opfer

Dabei gehört Jelineks Stimme immer den Opfern: den Toten von Fukushima oder Kaprun, den Opfern des Naziterrors, den unter Lebensgefahr übers Mittelmeer ziehenden Flüchtlingen oder den in männlichen Machtrefugien eingesperrten Frauen.

Am Vorabend des Geburtstags veranstaltet der Interuniversitäre Forschungsverbund Elfriede Jelinek nun am Dienstag, ein künstlerisch-wissenschaftliches Fest im Kosmos-Theater Wien, bei dem sich Gratulanten aller Generationen einfinden, von Emmy Werner bis Robert Misik, von Daniela Strigl bis Thomas Köck. (M. Affenzeller, A. Ben Saoud, D. Kamalzadeh, R. Pohl, C. Schachinger, M. Wurmitzer, 19.10.2021)

Seit der Nobelpreis-Ehre 2004 verweigert die 1946 in Mürzzuschlag, geborene Wienerin öffentliche Auftritte, Journalistenfragen lehnte sie anlässlich ihres Geburtstags höflich ab.
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Lockvögel, Baby!

Wer sich durch alle 73 Kapitel von Jelineks Romanzweitling müht, der hat bald mehr Plastikmüll intus als die sieben Weltmeere. In wir sind lockvögel, baby! gießt die Autorin die Prosaabwässer der Kulturindustrie zusammen. Wer schon immer wissen wollte, wie zärtlich Batman und Robin einander zugetan sind, der wird hier ebenso fündig wie generell alle Freunde von Groschenromanen. Die Avantgarde der Wiener Gruppe, die Preisgabe des "kohärenten" Erzählens zugunsten von Collage und Montage: Alle Kniffe fortschrittlicher Textproduktion werden in Jelineks Hand zu Waffen im Kampf gegen die Konsumgesellschaft. Von hier ist es nur noch ein neunschwänziger Katzensprung zur höhnischen Prosa in Lust. (poh)

Ramsau am Dachstein

Nicht nur wurde Die Klavierspielerin verfilmt, Elfriede Jelinek hegt selbst eine Affinität zum Laufbild, davon zeugt etwa auch ihr (unrealisiertes) Drehbuch zum Wien-Spionage-Krimi Eine Partie Dame. In einer besonderen Trouvaille, der ORF-Produktion Ramsau am Dachstein von 1976, kann man die Schriftstellerin sogar als Kommentatorin erleben: Jeder Einstieg beginnt mit "Das ist eine schöne Landschaft" – der von ihr verfasste Filmessay setzt dann freilich alles daran, die Künstlichkeit dieser für die Tourismusindustrie erzeugten Loden- und Urwuchsmär zu verdeutlichen, von der nur die "Fleißigen" profitieren. Jelineks kritisches Österreichbild im Kompakt(früh)format. Soll 2022 wieder veröffentlicht werden. (kam)

Die Ausgesperrten

Im Jahr erschien 1980 Die Ausgesperrten (Rowohlt) über eine Gruppe Jugendlicher und ihre brutalen Überfälle auf wahllos auserkorene Opfer. Aus Sätzen wie "Sauberkeit geht ihr gegen das Naturell, das innen und außen sehr unsauber ist" (über Anna) sprechen Aufruhr, Verlorenheit und Wut. Rotzig und rebellisch sind auch die umgangssprachliche Wortstellung sowie der lapidare Ton ernster Anklagen gegen die Elterngeneration, die Enge und Biederkeit jener Zeit. Sprachspielerische Kurzschlüsse, die unerwartete Sinnfunken sprühen, finden sich erst lose in Ansätzen, doch gibt es z. B. mit dem Zusammentreffen von "erhalten" (durch Eltern) und "unterhalten" (mit Dichtung) schon Jelinek-typischen Sog. Hart und verzweifelt! (wurm)

Die Kinder der Toten

Einer der zentralen Leitsätze des Zombie-Genres laut: Wenn die Hölle voll ist, kehren die Toten auf die Erde zurück. Allerdings wird dabei gern außer Acht gelassen, dass die Erde längst zur Hölle geworden ist. Elfriede Jelinek veröffentlicht 1995 ihr zentrales Werk Die Kinder der Toten, eine ausufernde Klageschrift über alles, was in diesem Land der Fall und himmelschreiend ist.

Die unverarbeitete Nazizeit, die menschliche Bankrotterklärung des Holocaust. Die Heimaterde, die von der Fäulnis der dort versteckten Toten weich geworden ist. Sie geht in den schönen Bergen unserer Heimat als Mure ab, um den Tourismus unter sich zu begraben. Die Schlechtigkeit der Welt wird im manchmal zähen und bitteren, sehr oft lustigen Erzählsermon Jelineks aufgefahren. Der Kirche kommt eine Sonderstellung zu. Ein katholischer Zombieroman. Die Filme wirken dagegen manchmal blass. (schach)

ende. gedichte

Nur noch antiquarisch zu bekommen sind Jelineks einzige zwei Gedichtbände, Lisas Schatten (1967) und ende. gedichte von 1966–1968, erstmals 1980 im Schwiftinger Galerie-Verlag mit fünf Zeichnungen von Martha Jungwirth erschienen. Sollte man dringend wieder auflegen – gehören Jelineks lyrische Versuche doch zu ihren ersten Veröffentlichungen.

In den freien Versen ist angelegt, was später zentral bleiben wird: Gewalt, Grausamkeit, Ohnmacht und Macht, Lust und Tod. Gleich das erste Gedicht trägt den Titel verachtung und gibt gut Gas: "ich breche euch alle in die knie / eure schmutzigen mäuler werden / aus den gesichtern schnattern". So konkret wird es in diesem Gedichtband selten. Eine opake, unheilvolle Stimmung, durchzogen von Farben, Tieren, Naturbildern und dem herablassenden Lachen einer, die zuletzt lacht, bestimmt dieses Frühwerk. (abs, 19.10.2021)