Hansjörg Friedrich Müller aus Berlin

Die Fassungslosigkeit, mit der sich einige deutsche Politiker und Kommentatoren am Sonntagabend äußerten, wirkte allzu routiniert, um glaubwürdig zu sein. Geschehen war, was früher oder später geschehen musste: Ein Politiker der rechtsradikalen Alternative für Deutschland (AfD) hatte in einer Volkswahl ein Exekutivamt errungen. Im konkreten Fall ist Robert Sesselmann der neue Landrat in Sonneberg, einem Städtchen in Thüringen.

"Gestalten" soll nach dem Willen der Wähler im Landkreis künftig Robert Sesselmann von der AfD. Es ist ein Novum in der Bundesrepublik, das für viele Diskussionen sorgt.
Reuters/Max Schwarz

Dass die Rechtsradikalen im Osten Deutschlands irgendwann Administrativämter einnehmen würden, ist keine Überraschung: Sesselmann war nicht der erste Politiker der Partei, der es in eine Stichwahl auf kommunaler Ebene geschafft hatte. Wenige Wochen vorher war ein Parteikollege von ihm in der Endausscheidung um das Amt des Schweriner Oberbürgermeisters gestanden, war dort jedoch einem Sozialdemokraten deutlich unterlegen, nachdem sich alle anderen Parteien gegen ihn verbündet hatten.

Neue Eskalationsstufe

Der Trotz der Sonneberger dürfte aus Sicht des politischen Establishments eine neue Eskalationsstufe darstellen: Auch hier hatten sich Christdemokraten, SPD, Grüne und Linke hinter den Gegenkandidaten gestellt, doch es half alles nichts. Dass Sesselmanns Sieg nicht der letzte AfD-Triumph im Osten Deutschlands sein wird, ist anzunehmen.

Der Landkreis Sonneberg hat gerade einmal 56.000 Einwohner. Die Wahlbeteiligung lag bei 58 Prozent; Sesselmann erhielt 52 Prozent. Wer nach einer solchen Wahl meint, die deutsche Demokratie sei in Gefahr, irrt. Wer allerdings glaubt, es handle sich lediglich um ein lokales Ereignis und eigentlich sei alles in bester Ordnung, liegt ebenso falsch: Fast jeder und jede Dritte tendiert in Ostdeutschland zur AfD, und auch im Westen des Landes macht die Partei Fortschritte: Landesweit kommt sie laut Umfragen auf 20 Prozent und ist damit stärker als die Sozialdemokratische Partei von Kanzler Olaf Scholz.

Die Debatte darüber, was die Ostdeutschen reitet, wieder und wieder rechtsradikal zu wählen, hat durch die Sonneberger Landratswahl neue Nahrung erhalten. Die Argumente, die ausgetauscht werden, sind seit langem bekannt: Die Sozialdemokraten seien schuld, weil sie identitätspolitische Modethemen bewirtschafteten und damit Arbeiter, Arbeiterinnen und Angestellte nicht mehr erreichten, meinen konservative Kommentatoren. Verantwortung trügen auch die Grünen, weil sie ihre Klimaagenda verfolgten, ohne Rücksicht auf die wirtschaftlichen Interessen der Bürgerinnen und Bürger zu nehmen.

Auch der rechtsextreme Björn Höcke (3. v. r.) durfte Sesselmann (2. v. r.) am Sonntag gratulieren.
IMAGO/Jacob Schröter

Vor allem was die Versäumnisse der Christdemokraten angeht, gehen die Meinungen auseinander: Linke Kommentatoren und Kommentatorinnen meinen, durch den konservativeren Kurs, den sie seit der Wahl ihres Parteichefs Friedrich Merz im Februar letzten Jahres eingeschlagen habe, mache die CDU die Anliegen der AfD erst recht mehrheitsfähig. Konservative sind dagegen der Ansicht, unter Angela Merkel habe sich die Union zu weit in die Mitte bewegt, wodurch politisch Heimatlose zur AfD abgewandert seien.

All diese Erklärungsversuche haben eines gemeinsam: Sie verkennen, wer dem AfD-Mann tatsächlich ins Amt verholfen hat: Die Wählerinnen und Wähler in Sonneberg. Der mündige Bürger kommt in den meisten Analysen nicht vor. Stattdessen wird über die Sympathisanten der AfD geredet, als handle es sich bei ihnen um Therapiebedürftige, die von den etablierten Parteien endlich wieder "abgeholt" werden müssten, wo sie sich auch immer befinden mögen. Ein solch paternalistischer Ansatz passt schlecht zu einer Demokratie.

Protestwahlen

Dabei hätte den Sonnebergern klar sein müssen, dass Sesselmann einer Partei angehört, deren thüringischer Landeschef Björn Höcke ohne jeden Zweifel ein Rechtsextremist ist. Ebenso hätten verantwortungsbewusste Bürgerinnen und Bürger erwägen müssen, dass es bei der Wahl eines Landrats zunächst einmal um die Bestellung eines Verwaltungsbeamten geht und nicht darum, Zeichen gegen "die da oben" zu setzen.

Unmut entbindet nicht von Verantwortung, nicht einmal dann, wenn er berechtigt ist. Daran zu erinnern ist noch keine Wählerbeschimpfung. (Hansjörg Friedrich Müller aus Berlin, 26.6.2023)