Polizisten blockierten den Weg der oppositionellen Demonstrierenden.
Polizisten blockierten den Weg der oppositionellen Demonstrierenden.
IMAGO/Umit Turhan Coskun

Am 1. Mai herrschte in Istanbul praktisch der Ausnahmezustand. Mehr als 42.000 Polizisten verhinderten, dass Gewerkschaften und Opposition eine Maikundgebung auf dem zentralen Istanbuler Taksim Platz abhalten konnten. Dafür wurde die halbe Stadt abgesperrt. Schon am Dienstagabend hatten Anzeigetafeln in mehreren U-Bahn-Stationen verkündet, dass die Linien ab 6 Uhr am 1. Mai nicht fahren würden. Auch der Fährverkehr von der asiatischen Seite Istanbuls rüber auf die europäische Seite, wo die Maikundgebungen stattfinden sollten, wurde stark eingeschränkt. Insgesamt sperrte die Polizei 30 Hauptstraßen, die in das für Kundgebungen gesperrte Zentrum der Stadt führen.

Der Sammelpunkt für die große Maidemonstration war in diesem Jahr direkt vor dem Istanbuler Rathaus in Saraçhane. Gemeinsam mit den Gewerkschaftsdachverbänden DISK und KESK hatten der gerade wiedergewählte Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu und der Vorsitzende der größten Oppositionspartei CHP, Özgür Özel, dazu aufgerufen, sich auf dem Rathausplatz zu versammeln und von dort zum Taksim-Platz zu marschieren. Auf Anordnung der Regierung in Ankara hatte jedoch der Gouverneur von Istanbul schon zwei Tage zuvor eine Kundgebung auf dem Taksim-Platz verboten.

Das war keine Überraschung, denn seit den Gezi-Protesten 2013, die vor allem auf dem Taksim-Platz stattgefunden hatten, lässt die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan keine Kundgebungen auf dem Platz mehr zu und hat auch Demonstrationen in den umliegenden Straßen verboten. So war auch die ansonsten immer überfüllte İstiklal Caddesi, die Haupteinkaufsstraße von Istanbul, die direkt auf den Taksim-Platz führt, am Mittwoch gähnend leer. Nur einige mit Rollkoffern bewaffnete Touristen waren an den Polizeisperren durchgelassen worden.

Bürgermeister durfte nicht ins Zentrum

Anders als in den Jahren zuvor solidarisierte sich in diesem Jahr aber die Parteispitze der CHP mit den Gewerkschaften und forderte die Regierung auf, den Weg zum Taksim-Platz freizugeben. Doch es nutzte nichts. Auch Oberbürgermeister İmamoğlu durfte nicht ins Zentrum seiner Stadt. Ersatzweise wurde dann eine Kundgebung vor dem Rathaus abgehalten, wo İmamoğlu und Özel das undemokratische und auch rechtlich unzulässige Demonstrationsverbot auf dem Taksim-Platz verurteilten.

Wenige hundert Meter vom Rathaus entfernt verläuft ein großer historischer Viadukt aus römischen Zeiten über die Hauptstraße, die über das Goldene Horn zum Taksim-Platz führt. Hier hatte die Polizei sich schwer bewaffnet aufgebaut und in mehreren Reihen die Straße gesperrt. Hinter den Polizeiketten warteten etliche Wasserwerfer auf ihren Einsatz. Nach der Kundgebung vor dem Rathaus versuchten einige linke Gruppen, diesen Polizeiriegel zu durchbrechen, und wurden mit Tränengas und Wasserwerfern empfangen. Anschließend rückte die Polizei wie eine römische Legion Schritt für Schritt Richtung Rathaus vor.

Die CHP-Spitze wollte aber keine gewaltsame Konfrontation mit der Polizei und löste die Kundgebung auf. Doch nicht nur am römischen Viadukt am Goldenen Horn, auch an vielen anderen Stellen in der Stadt, an denen die Polizei den Zugang zum Zentrum gesperrt hatte, kam es zu Auseinandersetzungen, bei denen etliche Demonstranten festgenommen wurden.

Die jährlichen Maikundgebungen und die seit Jahren wiederkehrenden Auseinandersetzungen um den Zugang zum Taksim-Platz täuschen allerdings etwas darüber hinweg, dass die Gewerkschaften in der Türkei insgesamt schwach sind und der Organisationsgrad sehr niedrig ist. Das liegt daran, dass nach dem Militärputsch am 12. September 1980 die Arbeit der Gewerkschaften stark eingeschränkt wurde und die gewerkschaftsfeindliche Gesetzgebung bis heute in Kraft ist. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 1.5.2024)