Eine lebensverändernde Affäre im Lagerraum: Etero (Eka Chavleishvili) und Murman (Temiko Chichinadze).
Eine lebensverändernde Affäre im Lagerraum: Etero (Eka Chavleishvili) und Murman (Temiko Chichinadze).
Alva Film

Die georgische Filmregisseurin Elene Naveriani hat eine künstlerische Mission. Sie begehrt mit ihren Filmen gegen die mancherorts rigiden dörflichen Denkstrukturen ihres Heimatlandes auf: gegen die Last von Traditionen, gegen den Zwang zur Familiengründung, gegen Geschlechter- und Körpernormen.

Gleichzeitig sind ihre Filme immer auch eine Liebeserklärung an die Menschen, die in diesen abgeschiedenen Dörfern leben. Die freundliche Melange aus Zuneigung und Widerstand entfaltet sich in wunderbar poetischen, wütenden und farbenfrohen Filmen. Rätselhaft und direkt zugleich, ebenso märchenhaft wie realistisch. Ein bisschen erinnert Naveriani darin an einen Meister aus Finnland, Aki Kaurismäki, dessen traurig-schöne Dramen immer auch einen sozialreformerischen Kern haben.

Meist erzählt Naveriani von Außenseiterinnen. In ihrem Debüt Wet Sand war das die queere Moe, die wegen des Todes eines entfernten Verwandten in einem kleinen Dorf am Schwarzen Meer für Unruhe sorgt. In ihrem neuesten Film Amsel im Brombeerstrauch, eine Literaturverfilmung von Tamta Melashvilis Roman Amsel, Amsel, Brombeerbusch, geht es um Etero, eine grimmig dreinschauende Endvierzigerin, die in der Gestalt der Schauspielerin Eka Chavleishvili etwas Fesselndes und Imposantes hat. Als Etero beim Brombeerpflücken – abgelenkt von einer schönen Amsel – fast einen Hang hinabstürzt und sich danach in einer surrealen Szene selbst als Leiche im Fluss treiben sieht, verändert sich ihr Leben schlagartig. Ihr zweites Leben beginnt.

Wunderliche Außenseiter

Noch ganz zerschürft von ihrem Sturz verführt sie also in ihrem kleinen Dorfkreisler den Zulieferer Murman (Temiko Chichinadze). Diese kleine Affäre fühlt sich echt an, sie ist lebendig, und sie holt Etero aus ihrer Reserve. Denn jahrelang lebte sie als Hausangestellte für ihren gewalttätigen Vater und Bruder, die vor nicht allzu langer Zeit verstorben sind. Im Dorf wurde sie deshalb schon immer schräg beäugt, vor allem von ihren gleichaltrigen Freundinnen, die alle Familien haben und sich einerseits um Etero sorgen, sich andererseits das Maul über ihre eigensinnige und übergewichtige Freundin zerreißen.

kinofilme

Es ist ganz und gar faszinierend, wie Naveriani diesen späten Frühling ihrer Protagonistin beobachtet, die sich völlig ohne falsche Körperscham und dennoch schüchtern wie ein Teenager in ihr neues Leben wirft. Dass es dabei zu kleineren und größeren Wundern kommt, wird am Ende dieses bemerkenswerten Films, dessen Vorbild übrigens Vittorio de Sicas Miracolo a Milano war, nicht überraschen.

Protest, auch im Kino

Elene Naveriani wurde 1985 Tiflis geboren, lebt aber inzwischen in der Schweiz und identifiziert sich als nichtbinär. Lebte sie noch in Georgien, würde Naveriani wohl derzeit mit jenen protestieren, die gegen die Hörigkeit ihrer Landesregierung gegenüber Russland auf die Straße gehen.

Dass die Jungregisseurin mit ihrem Widerstandsgeist in der georgischen Filmgeschichte bei weitem nicht allein ist, zeigt auch die aktuelle Filmschau "Perlen des georgischen Kinos" des Filmarchivs Austria. Zum Studium ging die Filmgeneration nach der Tauwetter-Periode entweder nach Moskau oder Teheran. Auf die Zeit der späten 1950er- bis in die 1990er-Jahre fokussiert auch die sehenswerte Schau. Einige Filme, etwa vom Exil-Franzosen Otar Iosseliani, sind noch bis 14. Mai im Wiener Metro-Kinokulturhaus zu sehen. (Valerie Dirk, 4.5.2024)