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Die Fahne bzw. das Fähnchen hoch, während Fundamentalisten strikt zwischen WIR und DIE ANDEREN unterscheiden: George W. Bush bei den Trauerfeiern zu 9/11

Foto: Reuters/Larry Downing

Letztes Jahr wurde an zwei Tagen eine anhaltende Spirale von Gewalt und Gegengewalt losgetreten: Am 11. September fanden die Attentate gegen das World Trade Center und das Pentagon statt, bei denen rund 3000 Zivilisten getötet wurden, und am 7. Oktober startete der Angriff auf Afghanistan, bei dem bisher rund 6000 Zivilisten getötet worden sind.

Wie können wir aus dem sich selbst reproduzierenden Zirkel der Gewalt ausbrechen?

Im TV-Sender CNN half ein Psychologe einige Tage nach dem 11. September bei der Beratung von Eltern, die mit schwierigen Fragen ihrer Kinder konfrontiert wurden. Ein junger Bursche hatte gefragt: "Was haben wir bloß getan, dass sie einen derartigen Hass haben, so etwas zu tun?" Eine weise Frage im Gegensatz zur gegebenen Antwort: "Sie können Ihrem Kind erzählen, dass es gute Menschen auf der Welt gibt - und Teufel."

Der Junge hatte offenbar die Entwicklungsstufe der "Gegenseitigkeit" auf der klassischen Skala kindlicher Entwicklung des bekannten Psychologen Jean Piaget erreicht, bei der man erkennt, dass das Handeln der anderen durch eigenes Tun beeinflusst wird (und umgekehrt). Im Gegensatz dazu weist die Antwort des Psychologen auf frühere Stadien der Entwicklung hin, auf einen Autismus, bei dem das aggressive Verhalten anderer niemals in Zusammenhang mit dem gebracht wird, was wir selbst tun.

Die US-Medien übergehen geflissentlich: Seit 1945 hat die USA 67-mal im Ausland interveniert, wobei zwölf Millionen Menschen getötet worden sind, rund die Hälfte bei offenen Aktionen (Pentagon), die andere bei verdeckten Aktionen (CIA). Von dem wissen die meisten US-Amerikaner nichts. Gleichzeitig sterben auf der Welt täglich 100.000 Menschen an Hunger und vermeidbaren Krankheiten inmitten von enormem Luxus und Vergeudung.

Erniedrigungen

In einer kurz nach dem 11. September vom arabischen Fernsehsender Al-Jazeera ausgestrahlten Stellungnahme sagte Bin Laden: "Unsere Nation hat diese Erniedrigung und Beschämung über 80 Jahre erdulden müssen." Er bezog sich dabei auf das Sykes-Picot-Abkommen von 1916, das Arabien unter nicht muslimische Herrschaft brachte. Ein Abkommen, das im Widerspruch zu der von Großbritannien versprochenen Unabhängigkeit für die arabischen Nationen stand. Angesprochen war auch die Balfour-Deklaration von 1917, die einen israelischen Staat in Palästina befürwortete.

Sowohl der Terrorismus, der von Männern und Frauen ohne Uniform durchgeführt wird, wie der Staatsterrorismus, der von Männern und Frauen in Uniform durchgeführt wird - was für die Opfer kaum ein Unterschied macht -, haben Folgendes gemeinsam: Sie setzen Gewalt für politische Zwecke ein; sie treffen Menschen, die nicht direkt in die Auseinandersetzungen verwickelt sind; sie verbreiten Panik und Terror, um die Kapitulation zu beschleunigen; sie decken die Attentäter vor der Verantwortung.

Der Wahhabismus, eine grundlegende islamische Strömung und Staatsreligion in Saudi-Arabien, und der Puritanismus, die zivile Religion der USA, haben einige Eigenschaften gemeinsam, darunter einen Dualismus, der die Welt aufteilt zwischen WIR und DIE ANDEREN, und die Überzeugung, dass es eine unentrinnbare letzte Schlacht geben wird, bei der die anderen wie Insekten "zermalmt" werden. Alle diese Elemente findet man in der Rhetorik sowohl von Bush wie von Bin Laden.

Das langzeitige Ziel der islamischen Fundamentalisten scheint es zu sein, Respekt für religiöse Empfindsamkeiten zu erringen. Die US-Regierung pocht auf freien Handel und militärische Sicherheit. Ein Handel, der auf Grundbedürfnisse ausgerichtet ist und die Anerkennung der Religion, könnte beide Seiten befriedigen. Man stelle sich nur vor, Bush hätte am 12. September 2001 Folgendes gesagt:

"Liebe Mitbürger und Mitbürgerinnen - das gestrige Attentat gegen die zwei Gebäude, das viele Tausend Menschen getötet hat, war ein abscheuliches Verbrechen und kann unter keinen Umständen hingenommen werden. Die Attentäter müssen ausfindig gemacht und festgenommen werden und vor einem entsprechenden internationalen Gericht unter UN-Schirmherrschaft gestellt werden.

Gefährliche Fehler

Meine heutige Ansprache geht aber darüber hinaus. Obwohl unsere Außenpolitik eigentlich gut gemeint ist, hat sie gefährliche Fehler begangen. Wir haben uns Feinde geschaffen durch unsere Arglosigkeit gegenüber den Grundbedürfnissen der Menschen in vielen Orten der Welt und gegenüber ihren religiösen Identitäten. Deshalb ordne ich folgende Schritte an:

Wir schließen unsere Militärstützpunkte in Saudi-Arabien; wir erkennen Palästina als Staat an; wir eröffnen Verhandlungen mit dem Irak, um die lösbaren Probleme zu identifizieren; wir akzeptieren die Einladung von Präsident Khatami, um das Gleiche mit dem Iran zu tun; wir werden uns weder militärisch noch wirtschaftlich in Afghanistan einmischen; wir halten unsere militärischen Interventionen zurück und suchen die Versöhnung mit den Opfern."

An diesem Abend hätten 1,3 Milliarden Muslime Nordamerika umarmt - und für die wenigen, die es nicht getan hätten, wäre das Wasser knapp geworden zum Schwimmen. Ein Schreiber hätte eine halbe Stunde für den Aufsatz und der Präsident zehn Minuten für die Rede gebraucht - im Gegensatz, sagen wir einmal von 60 Milliarden US-Dollar für einen Afghanistan-Feldzug. Psychologisch wäre es nicht leicht gewesen, aber der Nutzen wäre schlicht unermesslich gewesen. (© Inter Press Service/DER STANDARD, Printausgabe, 16.9.2002)