Christine Nöstlinger: "Er mag auch keine Hand auf seiner Hand. Heute nicht. Manchmal schon. Heute mag er nicht einmal eine Hand auf der Bettkante. Die schiebt er energisch weg. Aber das gefüllte Henkelglas lässt er sich reichen, und er schafft es, mühsam, konzentriert, zittrig, zu trinken, ohne einen Tropfen Saft zu verschütten."

Foto: Heribert Corn

Und wie er mit dem Leben zurecht kommen wird, falls er es ist, der überbleibt.

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Fünfzig Jahre mit ihm gelebt, und neben ihm, oft auch gegen ihn. Tag für Tag. Nur sehr selten für ein, zwei Wochen voneinander räumlich getrennt. Tausendmal gedacht und auch geglaubt: Ich kenne ihn besser als er sich selber!

 

In den letzten paar Jahren hin und wieder - nur so blitzschnell zwischendurch - überlegt, wer zuerst sterben wird. Auf prägnant Wienerisch: wer überbleibt. Und wie er mit dem Leben zurechtkommen wird, falls er es ist, der überbleibt; was aus ärztlicher Sicht die weitaus realistischere Prognose gewesen ist.

Und jetzt liegt er da. Flach auf dem Rücken. Drunter eine dicke Luftmatratze, die ein Motor sanft blubbern und wabern lässt, drüber eine hellblau-weiß gestreifte Bettdecke. Seit mehr als einem Jahr. Einen Arm kann er bewegen, nicken kann er und den Kopf schütteln, mit einer Schulter kann er zucken und die Mundwinkel zum Zeichen seiner Abneigung gegen irgendetwas oder irgendwen kann er senken.

"Hast du Schmerzen?"

Die Frage, ob er lächeln könnte, ist unsinnig. Warum und worüber sollte er denn lächeln?

Zu fragen, wie er sich heute fühlt, wäre genau so unsinnig. Seine Möglichkeiten, sich auszudrücken, reichen zur Auskunft nicht.

Möglich hingegen sind die Details: "Hast du Schmerzen?"

Er nickt und zeigt mit dem beweglichen Arm auf den Bauch und das gelähmte Bein.

"Soll ich dir den Friseur bestellen? Und den Fußpfleger?" Er zuckt mit der Schulter.

"Hast du heute schon eine Infusion bekommen?"

Er nickt und dreht den beweglichen Arm so, dass der große blaurote Fleck zu sehen ist, den die Infusionsnadel zwischen anderen blauroten, bereits verblassenden Flecken hinterlassen hat.

"Hast du zu Mittag wenigstens ein paar Bissen gegessen?"

Er schüttelt den Kopf.

"Schmeckt es dir denn so gar nicht?"

Er senkt die Mundwinkel.

Trotzdem wieder der übliche Versuch: "Soll ich dir etwas anderes bringen? Vielleicht ein bisschen Baliklachs? Den magst du doch! Oder ein wenig Beinschinken? Oder ein klitzekleines Stück Apfelkuchen?"

Kopfschütteln-Kopfschütteln-Kopfschütteln. Irgendwie ziemlich unwillig, direkt zornig. Will er sagen, dass ihm diese regelmäßige, ewig gleiche Abfragerei lästig ist, dass er es satthat und in Frieden gelassen werden will? Oder bloß, dass ihm das Schlucken zu anstrengend ist? Oder, dass für ihn alles gleich schmeckt?

"Soll ich dir vielleicht etwas vorlesen?" Das einen zu fragen, der seine Tage mit Lesen und darüber Reden verbracht hat, der mehr Geld für Bücher als für Klamotten ausgegeben hat und nun sichtlich Buchstaben nicht mehr voneinander unterscheiden kann, fällt schwer.

Nein, er will sich nichts vorlesen lassen. Hätte er es gewollt, hätte sich die Frage ergeben, was er hören will. In der Lade vom Nachttisch liegt nur das kleine Buch, das er in der Jackentasche hatte, als er ins Krankenhaus gebracht wurde. Platon-Apologie-Kriton-Phaidon.

Wäre wohl sowieso unpassend gewesen. Lyrik vielleicht? Unsinn! Ewig lange her, dass ihm Lyrik wichtig gewesen ist, dass er oft weit nach Mitternacht Freunde mit der grausigen Fistelstimme von Gottfried Benn quälte, und böse wurde, wenn sie lieber quatschten als einer zerkratzten Langspielplatte zu lauschen. Diese Benn-LP gibt es seit Jahrzehnten nicht mehr und ebenso wenig seinen Benn-Tick. Ist aber ohnehin sinnlos, über passende Lektüre zu rätseln, wenn er nichts vorgelesen haben will.

Die Uhrzeit erkennt er

Er schaut auf die Armbanduhr, die um das dünn gewordene Handgelenk schlenkert. Die Uhrzeit erkennt er. Eindeutig. Sagt jemand eine falsche Uhrzeit, hebt er den beweglichen Arm, starrt auf das Zifferblatt seiner Armbanduhr und schüttelt den Kopf. Wie spät es ist, war ihm nie besonders wichtig. Jetzt ist es für ihn vollkommen egal, aber er weiß es trotzdem. Und die Buchstaben, die sieben Jahrzehnte zum Wichtigsten in seinem Leben zählten, haben für ihn keine Bedeutung mehr. Das wenigstens hätte ihm sein Hirn nicht antun müssen!

Dass er keine Musik hören will, ist längst klar. Ob Bruckner oder Miles Davis, Bach oder Anita 0' Day, sie scheinen in seinem Kopf nicht mehr als Genuss, sondern als quälender Schmerz anzukommen. Sonst hätte er sich nicht jedes Mal die Ohrstöpsel sofort aus den Ohren gerissen.

Fernsehbilder winkt er auch immer entschieden weg. Das ist weniger verwunderlich. Im Fernsehen hat ihn ja früher auch bloß der Wetterbericht wirklich interessiert.

Also ihm irgendetwas erzählen, einfach drauflos plappern: "Gestern habe ich --- heute muss ich noch --- draußen ist es heiß --- morgen werde ich ---- diese und jener lassen dich grüßen ---"

Er starrt an die Zimmerdecke. Solcher Smalltalk-Plunder hat ihn sowieso immer gelangweilt, und die Höflichkeit, die ihn früher minimale Anteilnahme vortäuschen ließ, darf ja wohl jetzt nicht mehr von ihm erwartet werden.
Aber lässt sich denn von dem, der er vor dem grausigen Schlaganfall gewesen ist, überhaupt auf den schließen, der er jetzt ist? Wahrscheinlich lässt sich das nicht, aber es bleibt die einzige Möglichkeit, Nähe zu ihm zu imaginieren und nicht das Gefühl zu haben, am Bett eines fremden Menschen zu stehen.

Nur: Welche Wörter versteht er noch und welche nicht mehr? Ist das vielleicht von Tag zu Tag, von Minute zu Minute anders? Tauchen Wörter in seinem Kopf auf und verschwinden wieder? Und wie müssen die Sätze gebaut sein, dass er ihnen folgen kann?

Sätze, die ihn nicht überfordern

Einfache Sätze, die ihn nicht überfordern, hat man angeraten. Die Pfleger, die Ärzte, die Krankenschwestern können das. Sie haben ihn so kennengelernt, wie er jetzt ist, sie haben nicht ein halbes Jahrhundert ganz anders mit ihm geredet. Sie müssen nicht das Gefühl haben, ihn zu demütigen und ihm die Würde zu nehmen.
Er deutet auf das leere Henkelglas und den Krug mit dem blassrosa Saft drin. Aber er will sich zum Trinken nicht in sitzende Position bringen lassen. Warum sieht er denn nicht ein, dass er dann viel müheloser trinken könnte?

Nicht über das "Warum" nachdenken, einfach akzeptieren! Und den karierten XXL-Babylatz am Fußende des Bettes liegenlassen. Blassrosa Saft macht kaum Flecken, und den Latz kann er nicht mögen, nein, den mag er nicht.

Er mag auch keine Hand auf seiner Hand. Heute nicht. Manchmal schon. Heute mag er nicht einmal eine Hand auf der Bettkante. Die schiebt er energisch weg. Aber das gefüllte Henkelglas lässt er sich reichen, und er schafft es, mühsam, konzentriert, zittrig, zu trinken, ohne einen Tropfen Saft zu verschütten. Und er stellt das leere Henkelglas selbst wieder auf den Nachttisch zurück.

"Dann gehe ich jetzt halt"

Das hat ihn angestrengt. Er schließt die Augen. "Bist du müde?"
Er nickt.

"Willst du lieber allein sein?"

Er nickt.

"Dann gehe ich jetzt halt."

Er nickt und öffnet die Augen und hebt den beweglichen Arm und fährt sich mit der Handkante ruckartig quer über den Hals.

Dann schließt er die Augen wieder.

(Christine Nöstlinger, ALBUM/DER STANDARD, 02.08/03.08.2008)