David Marusek: "Getting To Know You"
Broschiert, 288 Seiten, Del Rey 2008.
Eine aufregende neue Stimme in der Science Fiction ... ach, auf Englisch klingt das in Rezensionen gerne verwendete "An exciting new voice ..." irgendwie besser. Auf jeden Fall ist der in Alaska beheimatete David Marusek, der seine Geschichten am liebsten in hohen nördlichen Breitengraden ansiedelt, eine solche Stimme. Und eine hierzulande noch kaum gehörte obendrein: Übersetzungen ins Deutsche gibt es noch nicht, und vorerst dürften wohl auch keine kommen. Zwei Romane gibt es seit 2007 bereits - erstaunlich eigentlich, bekennt Marusek im Vorwort zur Kurzgeschichtensammlung "Getting To Know You" doch, wie lange er zum Schreiben braucht. Die Fundamente der in den Romanen "Counting Heads" und "Mind Over Ship" beschriebenen Zukünfte hat Marusek bereits in den hier versammelten Geschichten aus den Jahren 1993 bis 2007 gelegt, sie bieten also den idealen Einstieg ins Werk eines großartigen Autors.
Da wäre zum Beispiel die Novelle "The Wedding Album": Die Frischvermählten Anne und Benjamin schwelgen im Glück, müssen allerdings bald erfahren, dass sie keine Menschen sind, sondern Simulationen. Und zwar keine simplen Hologramme, sondern für die Ewigkeit festgehaltene Momentaufnahmen ihrer Originale, inklusive Gefühlen und allen Erinnerungen bis zum Augenblick ihrer Erstellung. Ihr Status ist ihnen bekannt, "sie selbst" haben schließlich zu früheren Zeitpunkten solche Simulationen angefertigt. Sie wissen auch, dass sie jederzeit per reset aller neu hinzukommenden Eindrücke (wenn reale Menschen sie im 3-D-Hochzeitsalbum "besuchen") beraubt oder überhaupt gelöscht werden können - beeinflussen können sie es nicht. Does the refrigerator get a say? wird Anne vorgehalten, als sie Einwände vorbringt. Zu ihrem Leidwesen wird sie noch dazu weder das Dauerlächeln noch das unterschwellige schwipsige Glücksgefühl ihres Aufnahmemoments los - auch dann nicht, als die reale Ehe längst gescheitert und ihr Original dem Wahnsinn verfallen ist. Und auch dann nicht, als in der Außenwelt ein gesellschaftlicher Paradigmenwechsel eintritt: Künstlichen Persönlichkeiten - also auch ihr und allen später erstellten Anne-Simulationen - werden Bürgerrechte zuerkannt. 300 thousand trillion KIs folgen dem Ruf nach Simopolis, die irdische Ökonomie zerbricht an der Überlastung ... und damit ist die Geschichte noch immer nicht zu Ende. Doch Anne muss sich weiter durch die Jahrtausende lächeln. Selten wurde Transhumanismus so melancholisch und zugleich poetisch beschrieben.
Neben seinem luziden Stil, der Fähigkeit glaubhafte Charaktere zu entwerfen und die Konsequenzen technischer Entwicklungen weiterzudenken spielt Marusek damit eine weitere Stärke aus: die menschliche Seite der voranschreitenden Technik-Revolution zu beschreiben. Eine Geschichte mit dem schönen Titel "Cabbages And Kale Or: How We Downsized North America" schildert, wie es in den 2030ern zum Beschluss kam, die menschliche Fortpflanzung zu verbieten. Verjüngungstechnologien machen Vermehrung obsolet - doch hat der vermeintlich vernünftige Procreation Ban eine soziale Schieflage: Unter- und Mittelschicht lässt die Regierung einfach aussterben, übrig bleibt das land of the few and the competent. 30 Jahre später erlebt die wohlhabende Zoranna in der Titelgeschichte "Getting To Know You" die Folgen am Schicksal ihrer verarmten Schwester: die war erst Grundschullehrerin, später Sterbebegleiterin in einem virtuellen Hospiz - und verlor nach dem ersten Kundenkreis schließlich auch den zweiten, nachdem die einstige Bevölkerungspyramide zu existieren aufhörte. Wer sich das ewige Leben leisten will, sollte aber besser auch vonnutzen sein, sonst lautet die kühle Frage: "Must society carry your dead weight through the centuries?"
Noch einmal 30 Jahre später freuen sich Designer Sam und die hochrangige Regierungsbeamtin Eleanor in "We Were Out Of Our Minds With Joy" darüber, dass sie für eine retroconception zugelassen wurden: Sie dürfen ein illegal gezeugtes Baby, das als chassis eingelagert wurde, mit ihrer DNA überschreiben und als ihr Kind aufziehen. Die von nanotechnologischen nasties verseuchte Natur außerhalb ihrer manikürten Welt macht ihnen jedoch einen Strich durch die Rechnung: Sam wird infiziert und muss protokollgemäß seared (also "versengt) werden: Seine DNA ist nun gesperrt, jedes von seinem Körper abgesonderte Partikel wird automatisch vernichtet - während er sich die Augenbrauen auszupft und melancholisch betrachtet, wie jedes Härchen in einer winzigen Stichflamme vergeht, brütet Sam über seine kurz gewordene Zukunft nach. - "We Were Out Of Our Minds With Joy" ist ein Exzerpt aus dem Roman "Counting Heads", der in dieser Rubrik beizeiten noch rezensiert werden wird.
"Getting To Know You" enthält aber auch Geschichten, die nichts mit obiger Zeitlinie zu tun haben und in denen Maruseks Sinn für Humor durchkommt. In "Yurek Rutz. Yurek Rutz. Yurek Rutz" etwa erhält ein SF-Autor den Auftrag, die Grabinschrift für jemanden zu verfassen, der seinen Kopf im Permafrost Alaskas einfrieren lassen will - der Autor löst die Aufgabe auf eine Weise, in der Marusek die Grenzen zwischen erzählter und realer Welt aufhebt und auch gleich noch seinen Verleger Gardner Dozois mit hineinzieht. Und das nur dreiseitige "My Morning Glory", von Marusek als seine jolliest story beschrieben, hat durchaus gruselige Seiten: Erwacht der Ich-Erzähler, rundum von auf ihn abgestimmten Programmen eingelullt, doch in My Apartment, um sich auf My Channel die guten Nachrichten des Tages anzuhören, ehe er My Filter Mask anlegt, um sich draußen My Annual Evaluation zu stellen.
David Marusek: Eine ausdrückliche, nachdrückliche, große Empfehlung!