Peter S. Beagle: "Das letzte Einhorn und Zwei Herzen"
Gebundene Ausgabe, 304 Seiten, € 20,50, Klett-Cotta 2009.
Das Einhorn lebte in einem Fliederwald, und es lebte ganz allein. Als Eröffnungssatz ist das fast so berühmt wie: In einer Höhle in der Erde, da lebte ein Hobbit. Und zumindest eine Gemeinsamkeit weist der 1968 veröffentlichte Klassiker von Peter S. Beagle mit dem Werk von Tolkien auf: In beiden Fällen geht es um das allmähliche Verschwinden der Magie aus der Welt. "Ein Pferd soll ich sein? Seh ich so aus?" empört sich das Einhorn über die für jeden Zauber blind gewordenen Menschen: "Sie erkennen mich ja nicht einmal, sie sehen mich an und sehen etwas ganz anderes!" - Doch während sich durch Tolkiens Gesamtwerk der Rückzug der Magie aus einer geringer werdenden Welt wie ein unausweichlicher historischer Prozess zieht, verbunden mit der Abwanderung der Elben, erhält die Magie beim ungleich romantischer eingestellten Beagle eine neue Chance.
Doch vor der Queste steht die Selbsterkenntnis - und zu der gelangt das Einhorn, als es von ein paar vorbeiziehenden Jägern die Bemerkung aufschnappt, es sei das letzte seiner Art. Unrast macht sich in ihm breit, und so wird es aus seiner zeitlosen Abgeschiedenheit gerissen und gezwungen, die sterbliche Welt zu betreten. Wo es der Reihe nach all den Figuren begegnet, die entweder vom Buch selbst oder der Zeichentrick-Verfilmung aus dem Jahr 1982 wohlvertraut sind: Der schusselige Zauberer Schmendrick, die Räuberbraut Molly Grue, Mammy Fortunas Mitternachtsmenagerie mit all den darin gefangenen falschen und echten Geschöpfen, König Haggard, der für das Verschwinden der Einhörner verantwortlich ist, und dessen adoptierter Thronfolger Prinz Lír. Eines ist allen gemeinsam: Jeder von ihnen ist bemüht, seiner (vielleicht nur vermeintlichen) Rolle gerecht zu werden: Lír der des Helden, Schmendrick der des mächtigen Magiers und die Räuber um Molly ihrem Selbstbild: Wie Robin Hood wären sie gerne, und sind doch nur eine Bande von Halunken, die Reich und Arm bestehlen. Einer Täuschung über ihre wahre Macht sitzt sogar Mammy Fortuna, die doch selbst mit Illusionen handelt, auf - und ausgerechnet der düstere Haggard verkündet die Maxime "Lebt wie ich: ohne Täuschungen!" und begeht damit an sich selbst den größten Betrug von allen. Und schließlich droht sich sogar das Einhorn zu verlieren - doch wie heißt es im Text: Helden wissen Bescheid mit der Ordnung und dem Ablauf von Geschichten, und vor allem mit dem glücklichen Ende.
Poesie, Humor und Selbstreflexion machen die besondere Atmosphäre des "Letzten Einhorns" aus - und nicht nur die Geschichte, sondern auch die Sprache, in der diese erzählt wird, ist schlicht und einfach wunderschön (an dieser Stelle gebührt auch der alten und zum Glück wiederverwendeten Übersetzung von Jürgen Schweier hohe Anerkennung). Und nach 248 Seiten wundert man sich einmal mehr, wie kurz ein Klassiker sein kann - verglichen mit den Mastodonten, die sich unserer Tage auf den Markt wälzen.
Anlässlich eines Doppeljubiläums (die "Hobbit-Presse" von Klett-Cotta ist 40, Peter S. Beagle am 20. April 70 geworden) erscheint "Das letzte Einhorn" in Neuausgabe, ergänzt um die 2006 veröffentlichte und nun erstmals auf Deutsch erhältliche Novelle "Two Hearts" ("Zwei Herzen"). Dabei handelt es sich um keine direkte Fortsetzung, sondern um eine Episode, die Jahre später angesiedelt ist - das berühmteste Huftier der Fantasy-Literatur, das sich der sterblichen Welt wieder entzogen hat, spielt darin nur eine kleine Nebenrolle. Im Zentrum stehen Schmendrick und Molly, die den alt gewordenen Lír aus seinem Dämmerzustand rütteln, damit er noch ein letztes Mal die Heldenrolle übernehmen kann. In deutlich schlichterer Sprache als beim Hauptwerk - doch passend zur Ich-Perspektive des neunjährigen Mädchens Sooz, das die Ereignisse ins Rollen bringt und aus seiner Warte schildert - erfüllt sich in "Zwei Herzen" das Schicksal eines der "Einhorn"-Protagonisten. Weitere Episoden sind bislang nicht erschienen, aber denkbar.