Neal Stephenson: "Anathem"
Gebundene Ausgabe, 1023 Seiten, € 30,80, Manhattan 2010.
Wenn man sich zwischendurch keine Notizen gemacht hat - und wer außer einem Rezensenten sollte das auch tun -, hätte man am Ende der über 1.000 Seiten von Neal Stephensons jüngstem Werk möglicherweise schon vergessen, was man zwischendurch alles erlebt hat: Eine Polüberquerung, einen Angriff aus dem All, einen pyroklastischen Strom, Martial-Arts-Einlagen, eine ausgesprochen ungewöhnliche Raumfahrt und nicht zuletzt eine quantenphysikalische Verschiebung der Realität. Das klingt nach Stoff für eine ganze Reihe von Büchern und hält sich hier doch nur am Rande dessen auf, wo die eigentliche Action abläuft: in Gesprächen mit Erkenntnisgewinn. Der US-Autor mit dem Ruf wie Donnerhall hat sich bereits in seinem "Barock-Zyklus" mit der Wissenschaftsgeschichte befasst und tut dies in "Anathem" aufs neue - diesmal im Rahmen einer fiktiven Welt mit anderen gesellschaftlichen Voraussetzungen. Die geänderten Rahmenbedingungen dienen aber nicht einfach exotistischen "Was wäre wenn"-Gedankenspielen: Die Welt Arbre ist im Rahmen eines faszinierenden Multiversum- (bzw. hier: Polykosmos-)Modells mit der unseren verbunden, was seinerseits zur Erkenntnisfindung anregt.
Auf dem Planeten Arbre leben zwei weitgehend getrennte Gesellschaftsformen parallel nebeneinander: Die säkulare Welt und die der Theoren. Und hier lauert auch schon die erste Falle, denn "säkular" umfasst auf Arbre auch sämtliche Religionen, die - gesellschaftlichen Moden unterworfen, wie sie sind - von den Theoren als genauso flüchtig (und substanzlos) betrachtet werden wie alle anderen Phänomene der Außenwelt auch. Die Theore mögen zwar Mönchen gleich in Klostra und Konzenten leben, Kontemplation betreiben und sich einem strikten Regelwerk unterordnen - an Gottheiten glauben jedoch die wenigsten von ihnen. Ihre Beschäftigung gilt dem, was zeitlose Gültigkeit hat: Philosophie, Mathematik und theoretische Physik. Nur wenn eine sogenannte Apert ansteht, öffnen sie - je nach Gemeinschaft alle zehn, hundert oder gar tausend Jahre - für ein paar Tage ihre Tore zur Außenwelt.
In einer witzigen Szene schildert Stephenson, wie ein Theor einen Besucher mittels jahrhundertealtem Fragebogen knochentrocken darauf abklopft, was für ein Gesellschaftssystem da draußen gerade en vogue ist. Dinge, die dem mangelnden Geschichtsbewusstsein der säkularen Menschen als Selbstverständlichkeiten erscheinen, sind für die Theore nur befristete Phänomene in einem sich laufend verändernden und damit zugleich seltsam stillstehenden System. Sie sind es gewohnt, dass vor ihren Mauern abwechselnd Bürowolkenkratzer aufgetürmt werden und Bauern mit Eselskarren durch ödes Brachland ziehen. Alles vergeht und kehrt wieder - mit den Loriten gibt es sogar einen eigenen Theoren-Zweig, der es sich zur Aufgabe gesetzt hat darauf hinzuweisen, was an vermeintlich Innovativem alles schon einmal dagewesen ist. Der Unterschied zwischen dem säkularen und dem theorischen Zeitbegriff klafft mindestens so weit wie der zwischen den Unsterblichen und den "Wandelzivilisationen" in Alastair Reynolds' "Das Haus der Sonnen".
Die Handlung des Romans entspinnt sich entlang des Wegs eines jungen Theoren namens Erasmas, der sein Konzent verlässt. Seine Queste quer über Arbre und schließlich in den Weltraum hinauf wird zum räumlichen Ausdruck seiner inneren Reifung - und "Anathem" ist damit vom Kernplot her eine klassische Coming of Age-Geschichte. Was angesichts von Stephensons Schwerpunktsetzung auf philosophische Gespräche allerdings genauso wie die oben angesprochenen "Action-Elemente" fast untergeht. Bezeichnend der systemisch-soziologische Blick, mit dem Erasmas noch die buntesten Facetten der säkularen Welt betrachtet. Und auch was sich nach dem eigentlichen Anlass seines Aufbruchs - Erasmas' langjähriger Mentor Orolo wird aus dem Konzent überraschend abberufen - tut, folgt nicht gewohnten Erzählabläufen. Orolo hatte sich mit Astronomie beschäftigt - langsam kreisen nun seine SchülerInnen die vermutliche Ursache seiner Verbannung ein. Aus verschiedensten Blickwinkeln - von Camera obscura-Aufnahmen bis zu theoretischer Betrachtung der Möglichkeit, wie man mit hypothetischen Aliens kommunizieren könnte - leiten sie schließlich die unwiderlegbare Gewissheit ab, dass im Orbit über Arbre ein fremdes Raumschiff kreisen muss und ihnen dies von der säkularen Obrigkeit verschwiegen wird. Während in den meisten SF-Romanen das Ding zur Untersuchung mehr oder weniger sofort betatscht werden kann, läuft hier sehr viel über indirekte Nachweise: Ganz so, wie es in der realen Wissenschaft - speziell in den meisten Gebieten der Astronomie - auch der Fall ist.
Kaum vorstellbar, mit welchen Mengen von Dateien oder Karteizetteln Stephenson hier gearbeitet haben muss. Immerhin tut er nichts weniger als eine komplette mehrtausendjährige Wissenschaftsgeschichte - inklusive Akteuren, Schismen-artigen Abspaltungsbewegungen und vor allem Fachtermini - zu erfinden. Dazu noch ein praktischer Tipp: Ich war doof genug, das Glossar, das fast (leider nicht ganz!) am Ende steht, zu übersehen und mich mit dessen Auszügen zu begnügen, die an den Kapitelanfängen eingestreut sind. Ja, man kann sich die unzähligen Neologismen, die einen vor allem zu Beginn förmlich erschlagen, mit der Zeit aus dem Kontext heraus erschließen. Und vermutlich wäre das sogar der Hyläische Weg, der jeden Theor erfreuen würde (so biegt man sich seine eigene Unfähigkeit zurecht ...). Aber einfacher ist's doch, ein Lesezeichen im ausführlichen Glossar zu platzieren und gleich nachschlagen zu können. Auch wenn man die arbrischen Entsprechungen von Platos Höhlengleichnis, Ockhams Rasiermesser oder des Pythagoräischen Lehrsatzes ohne Hilfe erkennen kann - es gibt noch genug anderes zu entdecken, und "Anathem" ist nicht zuletzt ein Stück wissenschaftliche Detektivarbeit.
Eines lässt sich freilich ganz nüchtern konstatieren: Den Beweis, dass eine Geschichte 1.000 Seiten braucht, um erzählt werden zu können, kann auch Neal Stephenson nicht erbringen. Andererseits dürften die LeserInnen durch Stephensons bisheriges Schaffen ausreichend vorgewarnt sein - unter einer gewissen Länge macht der's einfach nicht. Überdies ist "Anathem" - ganz der in den theorischen Schulen geförderten geistigen Frische entsprechend - von einer optimistischen Grundhaltung und immer wieder auch von feinem Humor durchzogen. Bei aller Intellektualität des Stoffs bleibt das Ganze damit angenehm unverkrampft - so hätte man sich den Mathe- und Philo-Unterricht in der Schule gewünscht. Wer Spaß am Vorgang des Denkens an sich hat, der wird ihn auch an "Anathem" finden.