Pierre Bordage: "Die Sternenzitadelle"
Broschiert, 667 Seiten, € 16,50, Heyne 2010.
Wie gut, dass ich nicht nur viele Bücher lese, sondern einen Teil davon auch rezensiere. Nachdem sich die deutschsprachige Veröffentlichung des Abschlussbands von Pierre Bordages "Krieger der Stille"-Trilogie doch deutlich hinausgezögert hat, musste ich erst mal meinen alten Text (hier die Nachlese) hervorkramen, um wieder Anschluss zu finden. Immerhin geht der Autor derart verschwenderisch mit Personal und Schauplätzen um, dass sich "Vom Winde verweht" daneben wie eine billig abgekurbelte Telenovela ausnimmt. Wer jemals den naiven Versuch gestartet hat, mal eben die Wookieepedia anzuklicken, um sich schnell auf den aktuellsten Stand zu bringen, wie's nach der Filmtrilogie mit der "Star Wars"-Historie weitergegangen ist (wie viele Republiken, Bürgerkriege und Sith-Herrschaften hat's da eigentlich inzwischen gegeben?!?), der ist auch für Bordage gerüstet. Siehe etwa all die Ausschnitte aus fiktiven Sagen, historischen Berichten und Kommentaren, die stets den Kapiteln vorangestellt sind und die Romanhandlung aus noch ferneren Zukünften spiegeln. Hier wird ein Mythos aus dem Boden gestampft - vergleichbar mit dem Tempo, in dem einer der Romanprotagonisten, Mahdi Shari, innerhalb von nur zehn Jahren zur Legende auf zahlreichen Planeten geworden ist. Bordages Romane durchweht der Atem der Geschichte - vergleichbar mit dem "Herrn der Ringe"; bloß dass es hierzu noch kein ergänzendes "Silmarillion" gibt, das eine klare (Zeit-)Linie reinbringt.
"Die Sternenzitadelle" (im Original "La citadelle Hyponéros"; 1995) führt Mahdi Shari, Jek At-Skin, Tixu Oty, Aphykit, Oniki Kay und all die anderen Hauptcharaktere aus "Die Krieger der Stille" und "Terra Mater" noch einmal als Auserwählte für den gemeinsamen Kampf gegen das Böse zusammen - einige neue stoßen erst jetzt hinzu, um das biblische Dutzend vollzumachen. Etwa Ghë, Nachfahrin von atomar verseuchten Menschen, die vor 10.000 Jahren die Erde mit einer Exilflotte verlassen haben und nun nach Terra Mater heimkehren. Oder Whu Phan-Li, der vielleicht letzte Ritter der Absolution. Die Auslöschung seines Ordens hat er wegen eines amourösen Abenteuers verpasst; und die letzten 20 Jahre verbrachte er ausgerechnet damit, für einen Kinderhändlerring zu arbeiten. Das soll einer Läuterung und Aufnahme in den Zwölfer-Kreis der Krieger der Stille aber nicht entgegen stehen - niemand demonstriert dies deutlicher als Fracist Bogh, der als aktuelles Oberhaupt der Kirche des Kreuzes Massenhinrichtungen und Genozide mitzuverantworten hat. Vom Saulus zum Paulus gewandelt muss er nun gegen ebendiese Kirche antreten, die das wichtigste Instrument des eigentlichen Feindes darstellt, der In-Creatur. Diese hat viele Gesichter: Ein Wissenschafter sieht in ihr "nur" das große Schwarze Loch im Zentrum der Milchstraße, das Millionen von Sternen verschluckt, die Krieger der Stille hingegen kennen sie als die Antithese des Lebens - das personifizierte Nichts, das alles Leben auszulöschen trachtet. Die kleine Kriegerin Yelle nennt sie schlicht den Blouf.
"Die Sternenzitadelle" trägt sehr stark ausgeprägte metaphysische und
esoterische Züge. Und grundsätzlich sei an dieser Stelle festgehalten, dass es sich bei Bordages Romanen um Weltraum-Fantasy handelt, nicht um Science Fiction. Astronomische und biologische Aspekte bleiben vage (und die Übersetzung bringt mit wackeligen Wortstellungen gelegentlich ein zusätzliches Unsicherheitselement ein) - extra humorvoll daher das Staunen eines Wissenschafters, als Tixu Oty auf dessen luftarmem Schrottplanet materialisiert und seine Atmung sofort den örtlichen Gegebenheiten anpasst. Das bereitet dem Experten "wissenschaftliche Schwierigkeiten" - er selbst brauchte immerhin Jahrzehnte, um zu einem fellbedeckten Wesen mit extrastarker Lunge zu "mutieren". Die körperlichen und geistigen Fähigkeiten, die den Kriegern der Stille durch die innere Macht des Antra (der "Klang des Lebens") verliehen werden, sind pure Magie. Selbst "Star Wars"-Fans alter Schule, denen die Entmystifizierung der Macht durch poplige Midichlorianer immer noch schwer im Magen liegt, werden über die Möglichkeiten des Antra, wie zum Beispiel interstellare Reisen ohne Raumschiff, Bauklötze staunen. Aber das ist nur die Oberfläche, das magische Denken geht - beabsichtigtermaßen - bis hinunter zum Fundament. So wenden die künstlich erzeugten humanoiden Scaythen - vermeintliche Vollstreckungsgehilfen der Kirche, in Wahrheit Werkzeuge der In-Creatur - systematisch die Methode der Gedächtnislöschung an, um Menschen sukzessive ihrer Kreativität zu berauben und sie auf ihre Funktionalität zu reduzieren. Diese mentale Auslöschung wird explizit gleichgesetzt mit dem kosmischen Kahlfraß durch den Blouf. Das ist eine der Astrologie ähnliche Verknüpfung von Makro- und Mikrokosmos - "Das Universum ist nichts anderes als eine Projektion kleiner Universen", sagt Mahdi Shari an einer Stelle - oder kurz gesagt eben: Magie.
Der Feind ist recht klar definiert: Alles was den Menschen von sich selbst entfremdet, insbesondere (religiöse) Hierarchien. Speziell die katholische Kirche - kaum verschlüsselt als Kirche des Kreuzes - bekommt hier massiv ihr Fett weg. Von Dogmatismus über Frauenfeindlichkeit und Machtgier bis zu Ketzerverbrennungen und Pädophilie lässt Bordage wirklich nichts aus. Der Autor zeigt eine klare Linie, wenn er die Herkunft seiner Hauptfiguren beschreibt: Die zwölf Auserwählten stammen zwar aus extrem unterschiedlichen Milieus, allen ist aber die Angewohnheit gegen Regeln zu verstoßen oder zumindest ein gewisser Freiheitsdrang zu eigen. Und die jeweiligen Gesellschaftssysteme eint der Umstand, dass ihre ursprünglich sinnvoll gewesenen Regeln zu einem rigiden System der Unterdrückung verkommen sind. Und so nebenbei ermöglichen sie dem Autor natürlich auch opulente Beschreibungen exotischer Welten: Etwa die von verschiedenfarbigen Sonnen bestrahlte Zentralwelt Bella Syracusa, die mit unglaublicher natürlicher Schönheit prunkt (und dennoch von Machtintrigen vergiftet ist). Oder das Ökosystem des Planeten Ephren, dessen Festlandmassen von einem gigantischen Korallenschild bedeckt sind, der laufend von einem Frauenorden gereinigt wird, um Licht und Luft bis zur Oberfläche dringen zu lassen. Oder Ghës durch die Milchstraße vagabundierende Flotte, in der drakonische Strafen gegen Sauerstoffverschwendung gelten und daher nur langsame Körperbewegungen erlaubt sind. Auch das ist die "Krieger der Stille"-Trilogie schließlich: ein buntes, pralles Abenteuer. Eines mit brutalen Zügen überdies - selbst wenn schon alles gut zu werden verspricht, ist jederzeit noch ein Blutbad möglich.
So faszinierend Bordages Saga auch ist, sie hat auch ihre Schwachpunkte. Die Auserwählten (von wem wurden sie eigentlich auserwählt?) berufen sich nicht nur in Bezug auf ihre Mission, sondern auch in der Durchführung jeder Handlung auf etwas, das nicht greifbar und daher auch nicht hinterfragbar ist. Unter dem Dach der Indda bzw. Inddikischen Wissenschaft, zu der nur kreative "Ur-Menschen" Zugang haben, versammelt sich ein metaphysisches Konglomerat aus Rousseau'schem "Zurück zur Natur", Pantheismus, Tao und weiß der Religionswissenschafter was noch. Garniert mit etwas Anthropischem Prinzip aus der Quantenphysik, siehe Sharis Satz: "Alles Existierende auf dieser Welt muss durch einen Zeugen bekundet werden, um seine Existenz zu bestätigen. Das Beobachtete existiert nicht ohne seinen Beobachter." In dieser esoterischen Melange schwimmen dann auch Bestandteile, die auf eher verquaste Gedankengänge hindeuten: Auffällig oft geht beispielsweise die Erleuchtung eines Protagonisten mit Sex Hand in Hand. Ziemlich hippiesk, das - und wenn Bordages Trilogie schon mit "Dune" verglichen worden ist, dann sollte aber auch auf "Yellow Submarine" nicht vergessen werden. Der Kampf der BewohnerInnen von Pepperland gegen die Blue Meanies (bzw. Blaumiesen) ist ganz derselbe wie der von Bordages kreativen Ur-Menschen gegen die Mächte der Uniformität und Unterdrückung. Selbst die zentrale Aussage der "Krieger der Stille"-Trilogie kann man sich von den Beatles entleihen: All you need is love.