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In jeder ersten Volksschulklasse sitzen zwei bis drei Kinder die  nachts nicht trocken sind.

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Romana Altenhuber (42) ist Urologin am Wilhelminenspital in Wien. Ihre Spezialgebiete sind Kinder- und Frauenurologie. Sie leitet die kinderurologische Ambulanz und ist Mitbegründerin des Netzwerkes Trockene Hose.

Urologin Romana Altenhuber ist überzeugt: Zuerst geht es um Vertrauen, dann können Lösungen gefunden werden.

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Enruesis ist ein schönes Wort für das Tabuthema Bettnässen. Die Urologin Romana Altenhuber erklärt Grundsätzliches zu Blasenfunktion, Trockenwerden und Therapieoptionen. Die Fragen stellte Karin Pollack.

Standard: Wenn Kinder keine Windeln mehr brauchen, wird das als Meilenstein gefeiert. Welche physiologischen Vorgänge passieren?

Altenhuber: Sauberwerden ist ein komplexer Prozess, weil dem ein perfekt abgestimmtes Zusammenspiel zwischen Gehirn, Blase, Rückenmark und Beckenboden zugrunde liegt. Nur so wird aus einem Reflex im Babyalter ein bewusst gesteuerter Vorgang.

Standard: Ab wann ist das möglich?

Altenhuber: Zuerst müssen Kleinkinder ihre Blase als Organ wahrnehmen lernen und den Druck einer vollen Blase spüren. Dieses Gefühl muss zu einem Impuls, nämlich zu dem auf die Toilette zu gehen, werden. Das Harn-Zurückhalten-Können ist eine weitere Leistung, weil Kinder die Muskeln ihres Beckenbodens beherrschen müssen. Das alles dauert zwischen einem und drei Jahren.

Standard: Lässt sich das fördern?

Altenhuber: Grundsätzlich muss der Prozess vom Kind ausgehen. Man sollte Kindern Zeit lassen, auf ihre Bedürfnisse eingehen, sie nicht drängen. Erklärungen und das Beispiel der Eltern helfen Kindern beim Lernen, die Erwachsene auch gerne nachahmen. Druck hingegen ist schlecht.

Standard: Aber wenn ein Kind das erst einmal beherrscht, bleibt es dabei, oder?

Altenhuber: Nicht unbedingt. Auch Rückfälle gehören dazu. Tagsüber ist es einfacher, trocken zu sein, als nachts, die Beherrschung der Blase in der Nacht dauert oft ein halbes bis ein Jahr länger. Im Allgemeinen ist der Prozess des Trockenwerdens mit dem fünften Lebensjahr abgeschlossen.

Standard: Ab wann ist die Diagnose Enuresis gerechtfertigt?

Altenhuber: In der Definition der WHO erst ab dem fünften Lebensjahr. Man spricht von primärer Enuresis, wenn Kinder noch nie trocken waren, und von sekundärer Enuresis, wenn Bettnässen erneut zum Problem wird, obwohl Kinder davor schon mindestens sechs Monate trocken waren.

Standard: Wer kommt zu Ihnen in die Spezialambulanz?

Altenhuber: Viele Eltern mit Kindern ganz unterschiedlichen Alters, auch Eltern von Dreijährigen, die müssen in erster Linie beruhigt werden. Für eine Therapie ist entscheidend, dass auch das Kind Bettnässen als Problem sieht.

Standard: Was sind Gründe für Bettnässen?

Altenhuber: Bettnässen ist kein einheitliches Krankheitsbild. Tiefer Schlaf, vermehrte Harnausscheidung nachts (Polyurie) oder Blasenüberaktivität können Ursachen sein. Deshalb ist der erste und wichtigste Schritt bei einer Behandlung ein sogenanntes Blasentagebuch, indem notiert wird, wie viel und wann ein Kind trinkt und wie viel es ausscheidet. Diese zweitägigen Protokolle werden dann ausgewertet. Je nach Ergebnis behandeln wir.

Standard: Wie?

Altenhuber: Am Anfang stehen verhaltenstherapeutische Maßnahmen. Wir versuchen gemeinsam Muster zu finden, die zum Bettnässen führen. Trinken vor dem Schlafengehen kann oft die simple Ursache sein. Bettnässen zu enttabuisieren und die Körperfunktionen zu erklären beruhigt die Kinder und Eltern zusätzlich, denn es nimmt Stress. Viele Kinder sind erleichtert zu erfahren, dass jedes vierte Kind im Vorschulalter noch manchmal ins Bett macht und sie nicht allein mit dem Problem sind. In zehn bis 15 Prozent aller Fälle gelingt es so, das Problem zu lösen.

Standard: Und wenn nicht?

Altenhuber: Kann zum Beispiel die sogenannte Klingelhose helfen. Sie reagiert auf Feuchtigkeit und alarmiert. Durch diese Konditionierung können Kinder lernen, ihre Blase nachts wahrzunehmen. Natürlich gibt es auch Medikamente zur Unterstützung, etwa zur Reduktion der nächtlichen Harnmenge, oder auch gegen eine Blasenüberaktivität.

Standard: Was ist mit psychischen Faktoren?

Altenhuber: Sie spielen eine große Rolle. Deshalb ist Zeit bei der Suche nach den Ursachen entscheidend. Die Scheidung der Eltern, Stress in Kindergarten und Schule oder Missbrauch können dem Problem zugrunde liegen. Also geht es bei jeder Behandlung auch stark um Vertrauen. In jedem Fall sind Kontinuität in der Behandlung und eine fächerübergreifende Zusammenarbeit wichtig.

Standard: Welche Voraussetzungen sind für Betroffene noch wichtig?

Altenhuber: Es ist vorteilhaft, wenn Kinder immer denselben Ansprechpartner haben, sich Termine rasch und ohne lange Wartezeiten vereinbaren lassen. Daraus entstand die Idee der Initiative "Trockene Hose", die betroffenen Familien eine Anlaufstelle bietet und als spezialisiertes Netzwerk funktioniert.

Standard: Wie funktioniert sie?

Altenhuber: Unser Team besteht aus einer Psychologin, einer Kinesiologin und zwei praktischen Ärztinnen. Ich betreue Kinder von urologischer Seite. Was uns auf therapeutischer Ebene verbindet, ist ein gemeinsames Verständnis des Problems.

Standard: Wie läuft das ab?

Altenhuber: Die systemische Therapeutin führt das Erstgespräch, erklärt Grundsätzliches und empfiehlt das Führen eines Blasentagebuchs. Zum Abklären der organischen Ursachen kommen die Kinder zu mir. Gemeinsam finden wir für ein Kind dann eine individuelle Therapie. Das können Medikamente sein aber auch Gesprächstherapie.

Standard: Was kostet das?

Altenhuber: Die Untersuchungen und Therapien können zum Teil über Wahlarzthonorar abgerechnet werden.

Standard: Ist Bettnässen nicht auch ein Zeichen von Angst?

Altenhuber: Auch, aber nicht alles ist immer psychisch motiviert. Stress und Überforderung spielen natürlich eine große Rolle und haben auch Folgen für die Blase, die ja ein Projektionsorgan ist und vom Unbewussten beeinflusst wird.

Standard: Wie lange kann eine Therapie dauern?

Altenhuber: Unterschiedlich. Es kann nur Wochen, aber auch Monate dauern. Dahinter steht zusätzlich ein natürlicher Reifungsprozess, der auch ohne Therapie stattgefunden hätte. Was man sagen muss: Leider werden nicht alle Kinder ganz trocken, fast ein Prozent aller Menschen nässt gelegentlich im Erwachsenenalter noch ein. (Karin Pollack, DER STANDARD Printausgabe, 18.4.2011)