Zürich - Die Versuchspersonen hatten Hunger. Sie mussten einzeln in einem Raum warten, in dem eine Schüssel mit Rettich neben einer mit Schokolade stand. Einem Teil wurde gesagt, sie gehörten zur Rettich-Gruppe, die Schokolade dürften sie nicht anrühren. Dem anderen Teil stand die Schokolade frei. Nachher hatten alle zur Aufgabe, so lange an einem (unlösbaren) Puzzle zu arbeiten, bis sie nicht mehr weiterkonnten.

Die Rettich-Gruppe gab nach durchschnittlich 8,35 Minuten auf, die andere erst nach fast 19 Minuten.

"Der Versuchung zu widerstehen", sagt Roy Baumeister", "erschöpft unsere Willensstärke. Es bleibt dann weniger dafür übrig, an einer schweren Aufgabe zu arbeiten." Baumeister, experimenteller Sozialpsychologe an der Florida State University, untersucht seit langem anhand empirischer Studien, was zum Wohlbefinden der Menschen entscheidend beiträgt.

Die Theorien, dass Selbstwertgefühl und positives Denken dafür entscheidend sind, hatte er für "überbewertet" gehalten und gefragt, woher die vielen schädlichen und sowohl persönlich wie sozial destruktiven Verhaltensweisen kommen. Die Antwort fand er in einem von ihm mitentwickelten Modell. Es handelt von der zentralen Rolle von Willenskraft und Selbstkontrolle, nicht als moralische Kategorien, sondern als Teile einer Kräftedynamik, mit der Menschen mehr oder weniger gut haushalten.

Auf der fünften Tagung der Zurich.Minds-Stiftung, zu der Vortragende aus aller Welt geladen wurden ("Sharing passion"), spricht Baumeister über Selbstkontrolle wie über einen Muskel, "der auch bei starker Belastung ermüdet, den man aber ebenfalls durch Übung stärken kann". Zahlreiche Studien haben ergeben, dass ein erschöpftes Ich - sei es durch Ermüdung, Krankheit oder vorangegangene Akte der Willensstärke, sprich Verzicht - weniger fähig ist, einen weiteren Verzicht auf sich zu nehmen. Es kann auch weniger gut Entscheidungen treffen und ist schneller irritiert.

Plausibles Energiemodell

Der Vergleich mit dem Muskel ist kein Zufall: Baumeister sieht biologische Energie am Werk. Da Selbstkontrolle im präfrontalen Cortex situiert ist, bezieht der Psychologe die Glukosezufuhr in sein Konstrukt der Willenskraft ein.

Die Fähigkeit zu verzichten hat der aus Wien stammende Psychologe Walter Mischel bereits in den Sechzigerjahren untersucht. In seinen "Marshmallow-Experimenten" stellte er Zusammenhänge zwischen der kindlichen Fähigkeit zu Belohnungsaufschub und späterem schulischem und sozialem Erfolg her.

"Mischel hat sich auf kognitive Prozesse konzentriert", sagt Baumeister dazu im Interview. "Als wir mit unserer Forschung begannen, war in der Psychologie die Informationsverarbeitung en vogue. Seit einiger Zeit denkt man stärker in evolutionären, genetischen und biologischen Kategorien, das macht unser Energiemodell plausibler."

Mit dem New York Times-Wissenschaftsjournalisten John Tierney hat Baumeister die Arbeiten über Willpower zusammengefasst. Das Buch kommt in Kürze auf Deutsch heraus. Es kombiniert psychologische Theorie mit Praxistipps und Experimente mit Fallstudien, etwa über Eric Clapton. Ob er die Ratschläge aus seinem Buch selber befolge? "Ich weniger", antwortet er. "Meine Frau und meine Tochter schon eher." (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 20. Dezember 2011)