Auseinandersetzung mit einem Thema, das nicht nur Japan betrifft: Milena Michiko Flasar.

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Mit Stefan Gmünder sprach sie über Verweigerung, Einsamkeit und Anpassungsdruck.

Wien - Zwei Männner auf einer Parkbank. Irgendwo in Japan. Der Jüngere ist ein Hikikomori, also einer jener jungen Männer, die sich im Zimmer einschließen und den Kontakt zur Familie auf ein Minimum reduzieren (man geht von 100.000 bis 320.000 Betroffenen aus). Der Ältere, ein 58-jähriger "Salaryman" (Firmenangestellter), hat den Job verloren - was er der Gattin nicht sagt - und ist daher gezwungen, im Park seine vermeintliche Arbeitszeit abzusitzen, wo auch der Hikikomori die Tagesstunden verbringt. Die beiden kommen ins Gespräch ...

So die scheinbar eindeutige Basis, von der aus die 32-jährige Milena Michiko Flasar ihren vielschichtigen Roman Ich nannte ihn Krawatte entwickelt. Ohne plakativ zu werden, erzählt das Buch in glasklarer Sprache aus der Perspektive des Hikikomori von Lebenslügen, Herzbrüchen und von Affären mit einer geliebten namens Illusion. Mit Ich nannte ihn Krawatte legt die Autorin einen auch formal erstaunlich reifen Roman vor, der morgen im Berliner Wagenbach-Verlag (und nicht wie ihre ersten beiden Bücher bei Residenz) erscheint.

STANDARD: Die Hauptfigur Ihres neuen in Japan angesiedelten Romans, der 20jährige Taguchi Hiro, ist ein Hikikomori, also einer jener Menschen, die sich im Zimmer einschließen und das Haus nicht mehr verlassen. In Japan geht man von 100.000 bis 320.000 Betroffenen aus. Wie sind Sie auf das Thema gekommen?

Flašar: Ich wurde durch befreundete Familien, in denen es Hikikomoris gibt, mit dem Thema konfrontiert und als ich im Spiegel einen Artikel über eine deutsche Hikikomori las, die sich schon seit 22 Jahren in ihrem Zimmer eingeschlossen hatte, wurde mir klar, dass es sich um ein Thema handelt, das nicht nur Japan betrifft. Die Tatsache, dass sich das Ganze in der Familie, also einem geschützten Raum, abspielt, hat mich dabei besonders beschäftigt. Der Hikikomori steht aber nicht ausschließlich für eine Einzelperson, die sich im Zimmer einschließt, sondern auch für die allgemeine Tendenz, sich zurückzuziehen und damit Verantwortung abzugeben, und was mich interessierte, war vor allem dieses Symbolhafte am Hikikomori.

STANDARD: Sind Hikikomoris Männer oder Frauen, handelt es sich vorwiegend um jüngere Menschen, und warum ist in Westeuropa dieses Phänomen nicht im gleichen Maß verbreitet?

Flašar: In Japan handelt es sich bei Hikikomoris vorwiegend um junge Menschen und man schätzt, dass ca. 80 Prozent davon Männer sind. Das hängt wohl damit zusammen, dass auf Männern traditionell mehr Druck lastet. Vom ältesten Sohn etwa hängt der Fortbestand des Familienhauses ab. Zudem kann sich zwischen Mutter und Sohn oft eine starke Co-Abhängigkeit entwickeln, was es wiederum schwierig für ihn macht, eigene Wege zu gehen bzw. den Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter zu meistern. Dieser Übergang gestaltet sich bei „uns" vielfach über das Experimentieren mit verschiedenen Lebensstilen, wofür es in Japan schlichtweg und wortwörtlich weniger Raum gibt. Im Grunde aber finden wir auch hierzulande viele Jugendliche, die sich auf ihre eigene Art und Weise „ausklinken", zum Beispiel mithilfe von Drogen. Darin sehe ich Parallelen zur inneren Teilnahmslosigkeit eines Hikikomori, diesem Wunsch, nicht länger greifbar, nicht länger angreifbar zu sein.

STANDARD: Bücher wie Stephane Hessels „Empört Euch" fordern Engagement, Feuilletons setzen sich mit dem Wutbürger auseinander, in Ihrem Roman aber geht es um Verweigerung.

Flašar: Ich denke, dass man auch bei Hikikomoris von großer Wut und Enttäuschung sprechen kann, nur dass diese einen umgekehrten Weg gehen. Normalerweise drücken sich starke Emotionen in Form einer Explosion aus, bei Hikikomoris ist es meist eine Implosion, wenngleich es auch Gegenbeispiele gibt, so etwa Fälle von massiver körperlicher Gewalt gegen die eigenen Eltern. Im Fall von Hiro, der Hauptfigur in meinem Buch, aber gilt: Er mag seine Wut und den damit verbundenen Schmerz nicht unmittelbar ausdrücken, doch gerade indem er sie unterdrückt und sich selbst entzieht, ist er umso stärker präsent. Es handelt sich bei diesem In-sich-selbst-Verschwinden trotz aller Stille um ein sehr lautes Nein, auch zum eigenen Menschsein, das ja aus Kontakt mit dem anderen, aus Interaktion besteht.

STANDARD: Auch die zweite im Roman wichtige Figur, ein älterer Geschäftsmann, der seine Stelle verloren hat, sieht zu, wie ihm alles entgleitet. Sind die beiden Hilflose, Ausgelieferte?

Flašar: In meinem Kopf war zunächst einmal die Figur des in sich verkrochenen Hikikomori, der den Glauben an sich selbst und seine Entscheidungskraft verloren hat. Es stellte sich für mich dann die Frage, was ihn dazu bringen könnte, wieder nach draußen, das heißt aus seiner Befangenheit heraus zu gehen. Die paradoxe Antwort lautete: Durch eine ehrliche und tiefe Begegnung. Paradox deshalb, weil es eine Begegnung war, wenn auch eine schmerzhafte, die ihn zuallererst dazu brachte, sich einzusperren. Und da kam für mich die Figur des Salaryman ins Spiel, der dem Hikikomori in gewisser Weise ähnlich sein musste, damit dieser sich ihm anvertrauen würde. Ähnlich sind sich die zwei insofern, als auch der Salaryman in einer einsamen Blase lebt, sich hinter einem Geheimnis verschanzt und damit eine eigene Welt erschafft, aus der er schwer, eigentlich bis zum Ende nicht herauskommt. Beide verbindet im Grunde derselbe enge Aktionsradius, innerhalb dessen sie einander begegnen.

STANDARD: Im Buch geht es auch um eine Geliebte namens Illusion. Beim Geschäftsmann spielt sie vor allem in der Beziehung zu seiner Frau, der er nicht sagt, dass er entlassen wurde, eine Rolle. Was ist die Illusion des Hikikomori?

Flašar: Seine Illusion besteht darin, dass er sich einsperrt und denkt, er bewirke dadurch nichts. Er glaubt, sein Verschwinden hätte auf die Außenwelt keinen Einfluss. Er ist die Kugel, die still im Abseits liegt und keine andere in Bewegung setzt. Das ist seine große Illusion, er sagt ja dann auch selbst, dass es eigentlich unmöglich ist, niemandem zu begegnen. Indem man da ist und atmet, begegnet man der ganzen Welt. In diesem Sinne hat sein Nichtpräsentsein sehr wohl einen großen Einfluss auf die Familie und auf sein näheres Umfeld. Zum Beispiel macht es auch seine Eltern zu Hikikomoris, da sie immer zur Verfügung stehen, für ihn da sein, ihn nach außen hin schützen müssen. So entsteht ein System, das auf Scham und Verdrängung basiert und es umso schwieriger macht, daraus auszubrechen.

STANDARD: Man kann „Ich nannte ihn Krawatte" auch als einen Roman über Anpassungsdruck lesen?

Flašar: Es geht um den Mut zum Anderssein und die Kraft, dieses auszuhalten. Ich denke, der Anpassungsdruck in der japanischen Gesellschaft ist, soziokulturell bedingt, höher als bei „uns", da in Japan der Weg klarer vorgezeichnet ist. Kinderkrippe, Kindergarten, Grund-, Mittel- und Oberschule, danach die Universität, daneben Nachhilfeschulen und der Druck, möglichst gut abzuschneiden, um später eine gute Anstellung zu finden. Von diesem klar strukturierten Weg abzuweichen ist schwer, weil man, einmal abgewichen, nur mühsam oder gezeichnet wieder zurückfindet. Der Jugendliche in meinem Buch leidet einerseits unter diesem Leistungsdruck, andererseits macht ihm die Perspektivlosigkeit zu schaffen. Das gilt für viele junge Leute. Sie wissen, gewisse Strukturen - eine lebenslange Anstellung beispielsweise - funktionieren nicht mehr und die Diskrepanz zwischen dem, was sie leisten sollen, und dieser Hoffnungslosigkeit erhöht den inneren Leidensdruck.

STANDARD: Dazu kommt dann noch der Konflikt des Individuums mit der Mehrheitsmeute.

Flašar: Wenn man von jemandem sagt, er sei anders, ist das oft kein Kompliment. Anderssein wird oft genug als Störung betrachtet. Man stört damit das Gleichgewicht in einer Gesellschaft oder einer Gruppe. Das ist ein enormer Druck, der zur Verwirrung darüber führen kann, wer man eigentlich ist. Bin ich mein privates Gesicht? Oder mein öffentliches? Kann in diesem Spannungsfeld überhaupt eine echte Begegnung mit einem anderen entstehen? Gibt es über mein kontextuelles Ich hinaus ein gleichbleibendes? Wie viel von meinem Ich ist vergänglich, wie viel davon bleibt? Wenn über diese Dinge Verwirrung herrscht, gerät man in ein existenzielles Dilemma...

STANDARD: ... aus dem man unter anderem mit Wahrhaftigkeit ausbrechen kann, wie eine wichtige Lehrerfigur im Roman sagt.

Flašar: Ja, der Wahrhaftigkeit kommt im Buch eine große Rolle zu. Die Lehrerfigur lehrt im Grunde wahrhaftige Achtsamkeit und, daraus resultierend, wahrhaftiges Mitgefühl. „Wer in einem Lachen nichts anderes hört als ein Lachen, der ist taub", sagt er und fordert damit ein mitfühlendes Hören ein, welches ein tieferes Verständnis für die andere Person erlaubt, ein tieferes Verständnis für die Situation, in der sich die Person befindet. Durch dieses Verständnis für den anderen wird wiederum eine tiefer greifende Selbst- und Welterkenntnis möglich. Das ist auch ein wichtiger Aspekt für die beiden Hauptfiguren. Erst durch das Mitgefühl, welches er für den Geschäftsmann empfindet, schöpft Hiro, der Hikikomori, die Kraft, von sich aus Entscheidungen zu treffen, und so hat der Salaryman letztlich die Lehre seines Lehrers weitergegeben, auch wenn er selbst daran gescheitert ist. Indem er sich dem Jüngeren mitteilt, indem er ihn dazu auffordert, ebenfalls von sich zu erzählen, werden sie beide zu Lehrern und Schülern, die von- und miteinander lernen. (Stefan Gmünder, DER STANDARD - Printausgabe/Langfassung, 2. Februar 2012)