Erich Lessing erkannte, dass das Landwirtschaftsleben im Kibbuz, das Züchten von Fischen, "doch nicht meine Lebensaufgabe" ist: Zunächst war er Strandfotograf - und dann in ganz Europa unterwegs.

Cremers Photoblog: Erich Lessing in seiner Fotogalerie

Foto: Matthias Cremer

Standard: Mit knapp 89 Jahren haben Sie in der Weihburggasse 22 eine Galerie für Ihre Fotografien eröffnet. Wie kam es denn dazu?

Lessing: Wie sagt man? Wenn es dem Esel zu gut geht, geht er aufs Glatteis tanzen. Ich habe an hunderten Ausstellungen teilgenommen. Eine Wanderausstellung des Außenamts war von Nordbrasilien bis zur Südspitze Afrikas zu sehen. Aber in Österreich gab es fast keine Ausstellungen. Irgendwann saßen wir mit der Kunstkritikerin Angelica Bäumer zusammen. Sie meinte, ich sollte eine Galerie aufmachen: "Vis-à-vis meiner Wohnung hat gerade ein Modegeschäft zugesperrt. Schau dir das doch an!" Ich hab mir das Lokal angeschaut - und stellte fest: Eigentlich ist es ideal für eine kleine Galerie. Ich kann all die Bilder zeigen, die man jahrzehntelang nicht oder noch nie in Österreich gesehen hat, darunter eben die Farbbilder, die Landschaften, die Kunstwerke. Ich dachte mir: Schau ma mal. Die Miete werde ich bezahlen können. Notfalls sperr ich eben wieder zu.

Standard: Natürlich gibt es etliche "Klassiker" aus der Nachkriegszeit zu sehen. Diese Fotos ergänzen Sie mit einer Themenausstellung.

Lessing: Ja. Wir haben uns gefragt: Was mach ma als erste Ausstellung? Normalerweise heißt es immer: die Fotos vom Staatsvertrag! Aber das staubt mir schon bei den Ohren heraus. Und ich glaube, den Beschauern auch. Ich sagte: Warum nicht eine Osterausstellung? Ich hab so viele Sachen fotografiert, die mit Ostern und Jesus im Zusammenhang stehen. Ich dachte mir, es wird sich eine Melange finden, die ja meine Spezialität ist in der Farbfotografie. Und sie hat sich gefunden. Wir haben etwa 35 Bilder ausgewählt: von Jericho bis Jerusalem, der Tempel, das letzte Abendmahl von Leonardo, der Garten von Gethsemane, das Gebet am Ölberg, Pilatus, sich die Hände waschend, Golgatha, eine italienische Kreuztragung aus dem Louvre, eine süddeutsche Pieta aus dem 15. Jahrhundert, die mich sehr beeindruckt hat, die Grabeskirche und so weiter.

Standard: Ihr Schauraum ist auch eine Fundgrube: Sie verkaufen u. a. Ihre Pressefotos aus den 1950ern.

Lessing: Die ersten Fotos sind aus 1948, viele aus der Magnum-Zeit. Sie kosten ab 1500 Euro, die meisten sind Unikate. Da muss man sich ein bisschen hinsetzen und in den großen Schachteln stöbern. Die Qualität der Ausarbeitungen ist, das muss ich schon sagen, bestechend - auch noch nach 60 Jahren. Es gibt aber auch "modern prints", die für junge Sammler erschwinglich sind.

Standard: Ihre Familie wurde vom NS-Regime verfolgt, Sie konnten nach Palästina fliehen. Warum sind Sie bereits 1947 wieder nach Wien zurückgekehrt?

Lessing: Ich wollte eigentlich nach Paris an die Filmakademie, aber ich hab kein Frankreich-Visum bekommen. In Wien konnte ich wenigstens schauen, ob noch irgendjemand von unserer Familie am Leben ist. Und dann bin ich hängengeblieben. Ich hatte kein Geld mehr, suchte einen Job, hab meine Frau kennengelernt. Und so bin ich immer noch da.

Standard: Sie wuchsen in der Josefstadt auf. Im März 1938 waren Sie knapp 15 Jahre alt. Wie haben Sie die NS-Zeit erlebt?

Lessing: Es gab nur ein paar Raufereien und unangenehme Erlebnisse. Ich ging für ein paar Monate in eine jüdische Klasse. Im Sommer 1938 wurde sie gesperrt.

Standard: Zu fliehen kam Ihnen nicht in den Sinn?

Lessing: Man dachte: Es wird schon vorbeigehen. Erst Ende 1939 hat man geahnt, dass es für die Juden schlecht ausgehen wird. Und dann hat meine Generation versucht, noch schnell wegzukommen. Arg wurde es erst, als man keine Ausreisepapiere mehr bekommen hat.

Standard: War es nicht schwierig, eine Schiffspassage zu bekommen?

Lessing: Das ging automatisch, wenn man ein Ausreise- und ein Einreisevisum hatte. Ich hatte zwei Auflagen zu erfüllen: Man musste die "Juva", die Judenvermögensabgabe, zahlen. Und dann brauchte ich eine Steuerunbedenklichkeitserklärung. Die Gestapo machte sich den Spaß, dass die eine abgelaufen war, bevor die andere gültig wurde. Was sollte ich tun? Ich weiß nicht, war es der Teddy Kollek, der gerade zu Verhandlungen mit Adolf Eichmann in Wien war, oder der Dolfi Brunner. Jedenfalls, einer der beiden sagte zu mir: "Na ja, aus dem 9. Dezember machen wir einen 19. Dezember. Dann gehst du in die Naglergasse zur Lichtbildstelle Alpenland und verlangst den Herrn Harand. Dem sagst du, dass du eine Kopie brauchst." So ging ich in die Naglergasse. Herr Harand schaute sich die Papiere an und sagte: "Besonders gut leserlich wird die Kopie nicht sein. Du gehst dann in die Alser Straße zu einem Notar über dem Café Wöst" - ich weiß seinen Namen nicht mehr - "und sagst ihm, dass du von mir kommst. Er möge bitte die Kopie beglaubigen. Und mit der fährst du weg. Das Original lässt du beim Notar." So geschah es auch. Die beiden haben das sicher einige Male gemacht und einige Menschen gerettet - so auch mich.

Standard: Und Ihre Mutter?

Lessing: Sie hätte mit einem illegalen Transport die Donau hinunter fahren können. Aber die Holländer nahmen ältere Personen nicht mit, weil es zu gefährlich war. Meine Großmutter hätte daher nicht mitkommen können. Und meine Mutter wollte sie nicht allein lassen. Meine Großmutter kam später nach Theresienstadt. Und meine Mutter nach Auschwitz. Beide kamen um.

Standard: Wie erfuhren Sie vom Tod Ihrer Mutter?

Lessing: Es gab die Möglichkeit, einmal im Monat über das Rote Kreuz zu schreiben: "Wie geht es dir? Mir geht es gut." Als 1943 kein Lebenszeichen mehr kam, wusste ich: Da ist etwas passiert.

Standard: Da waren Sie schon im Kibbuz?

Lessing: Nein, ich studierte noch am Technion Radiotechnik. Das war eine schöne Zeit. Damals lernte ich Gerhard Bronner kennen. Er war Pianist in einer Bar in Achusa, einem Stadtteil von Haifa. Und ich war Taxichauffeur. Von Zeit zu Zeit wurde nachts aus der Bar angerufen: "Der Pianist braucht ein Taxi." So sind wir draufgekommen, dass wir beide aus Wien stammen. Daraus entwickelte sich eine Freundschaft. Ich lernte bei ihm Klavier. Meine Mutter war eine gute Konzertpianistin gewesen. Aber der Gerhard hat es bald aufgegeben. Er sagte: "Aus dir wird nie ein Pianist werden."

Standard: Fotografierten Sie bereits?

Lessing: Ja, das Fotografieren hat mich immer schon interessiert, aber es war keine Lebensaufgabe. Ich bin noch immer der Fotograf ohne Kamera. Ich muss nicht andauernd fotografieren.

Standard: Reportagefotograf wurden Sie aber erst in Wien?

Lessing: Ja. Ich dachte mir: Das Landwirtschaftsleben im Kibbuz, das Züchten von Fischen, ist doch nicht meine Lebensaufgabe. Schauen wir einmal, wie das mit der Fotografie ist. 1945/46 war ich Strandfotograf in Netanja. Das war lustig, aber auch nicht erfüllend. Und so wollte ich nach Paris.

Standard: Aber Sie kamen nach Wien und fotografierten für AP.

Lessing: Aber nicht lange. 1950 ging ich über die grüne Grenze nach Deutschland und arbeitete für das Heute, ich machte eine große Reportage über Triest. Ich wollte dorthin zurück, wo ich Europa verlassen hatte. Die Reportage war anscheinend sehr gut. Und dann bin ich zur Quick. Der Bildredakteur sagte: "Interessiert Sie Spanien? Gut, gehen Sie an die Kasse, nehmen Sie sich 3000 Mark - und kommen Sie gesund wieder." Ich rief meine Freundin an: "Lern schnell Spanisch! Und wir müssen heiraten, denn sonst kriegen wir in Spanien kein Doppelzimmer." 1951 sind wir nach Spanien, dann nach Frankreich. Es begann ein Jahrzehnt des Herumreisens.

Standard: Und Sie wurden Magnum-Fotograf. Was war für Sie in den 1950ern das zentrale Ereignis?

Lessing: Der Staatsvertrag. Und Ungarn. Die Niederschlagung des Freiheitskampfes war auch der Grund, warum ich aufgegeben habe, Schwarz-Weiß-Reportagen zu machen. Weil sich im November 1956 in Budapest herausgestellt hat, dass unsere Hoffnung, durch die Reportage, durch das Fotografieren den Gang der Weltgeschichte ein bisschen beeinflussen zu können, als Illusion, als Irrtum herausgestellt hat. Jalta war eben wichtiger als Ungarn. Meine Frau lebte damals in Genf, sie sagte: "Du kommst von einer Reportage nach Hause - und bist am nächsten Tag wieder weg. So kann das nicht weitergehen." Wir beschlossen, nach Wien zu übersiedeln und Kinder zu kriegen. Ich hab mich in die Museen zurückgezogen und 50.000 Kunstwerke fotografiert. Ich begann mit der Farbfotografie und machte große Reportagen für Paris Match und andere Zeitschriften. Aber ich bin sehr glücklich, die große Zeit der europäischen Politik miterlebt zu haben. (Thomas Trenkler, Album, DER STANDARD, 24./25.3.2012)