Mattanza in Carloforte auf San Pietro vor Sardinien: Wenn die Fischer die Netze zusammenziehen und die Thunfische an die Oberfläche gedrängt werden, scheint das Meer zu kochen.

Foto: Georg Desrues
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Die jahrtausendealte Tradition ist laut Slow Food eine der ganz wenigen Arten, heute noch nachhaltigen Thunfischfang zu betreiben.

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Alle Teile des Fischs werden verwendet...

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...die Herzen und Eiersäcke zu Bottarga getrocknet, die anderen Innereien zur Pastasauce Tarantella verbraten, die es auch in Dosen aus lokaler Herstellung gibt.

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Der Bauchlappen, "ventresca" genannt, ist der fetteste und begehrteste Teil des Thunfischs.

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Nicolò Puggioni hatte gar nicht bemerkt, dass die von der EU genehmigte Fang-Saison für den Roten (auch: Blauflossen-)Thunfisch im Jahr 2011 die kürzeste aller Zeiten war. "Wir fischen sowieso nie länger als einen Monat - jedes Jahr von Mitte Mai bis Mitte Juni", sagt der Mann, der seit fünf Jahren die Position des "Rais" unter den Thunfisch-Fischern von Carloforte innehält. Der Begriff Rais kommt aus dem Arabischen und bedeutet so viel wie Chef oder Anführer.

Aus dem Arabischen deswegen, weil die Bewohner der kleinen Insel San Pietro, deren Hauptort Carloforte ist, im 16. Jahrhundert aus Ligurien kommend auf eine andere Insel namens Tabarca vor der Küste Tunesiens ausgewandert sind. Von dort wurden sie im 18. Jahrhundert vertrieben und ließen sich hier, sieben Kilometer vor der Südostspitze Sardiniens, nieder. Bis heute bezeichnen sich die Einwohner San Pietros als Tabarchini. Und sie verständigen sich untereinander in einem mit arabischen Begriffen gespickten ligurischen Dialekt - und nicht in Sardisch wie die Bewohner der Hauptinsel, von denen die Tabarchini nur als "die Sarden" sprechen.

Kammer des Todes

An diesem Tag blickt der Rais zuerst aufs Meer und dann auf den Himmel. Keine Wolke ist zu sehen. Das Meer ist friedlich und von jenem türkisen Grün, das sich nur hier, vor der Küste Sardiniens, findet. "Heute ist es so weit", sagt Puggioni, bevor er sich für den dritten Fangtag der Saison bereit macht.

Eine Woche hatten er und seine Männer gewartet, bis Wetter und Seegang es endlich erlaubten, die Thunfische aus dem Wasser zu ziehen, die in dieser Zeit in das System aus ausgelegten Netzen, die sogenannte Tonnara, geschwommen sind. An die 250 Fische werden die Fischer in die "camera della morte" - die Kammer des Todes - treiben. Und sie dann durch Heraufziehen des Netzes aus dem Meer hieven.

Das Ende des Netzes ist an ein paar Booten befestigt, die U-förmig vor Anker liegen. In ungefähr 100 Metern Entfernung liegt ihnen ein weiteres, quergestelltes Boot gegenüber, auf dem zwei Dutzend Männer stehen. Mit aller Kraft ziehen sie sich an dem nassen, schweren Netz heran. Sie schreien, singen und feuern sich gegenseitig an. Vor ihnen, auf einem kleinen Ruderboot stehend, brüllt ihnen der Rais seine Anweisungen entgegen.

Von den Fischen selbst ist bislang nichts zu sehen. Doch als das Boot mit den Männern näherkommt, tauchen immer mehr schwarze Schatten auf, die kreisförmig um den Rais schnellen. Dann, plötzlich, als der Kreis immer enger wird, beginnt das Meer zu schäumen. Mit der ganzen Kraft ihre Flossen peitschen die bis zu 300 Kilogramm schweren Fische die Wasseroberfläche. In seinem Ruderboot hat Puggioni alle Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Erst in letzter Sekunde, als das Netz sich auf weniger als zwei Meter zusammenzieht, springt er aus dem Boot.

Fische bekommen "Gnadenstoß"

Nun folgt die sogenannte Mattanza - und die ist kein schöner Anblick. Vor allem dann nicht, wenn man verdrängt hat, dass für jedes Thunfisch-Sushi, für jede Thunfisch-Pasta und jeden Thunfischaufstrich wirklich einzigartige Tiere haben sterben müssen. Die Männer halten Haken an langen Stielen in den Händen. Damit verpassen sie den Fischen den "colpo di misericordia" - den Gnadenstoß.

Wenn die Tiere zu groß sind, um sie per Hand herauszuziehen, werden sie an einen Flaschenzug gehängt. Die Männer sind sichtlich und spürbar erregt. Auf beiden Seiten des Netzes bemüht sich jede Gruppe, die größten Exemplare an Bord zu hieven. Hinter ihnen stehen Wannen voll Eis, in die sie die Thunfische werfen. Die Fische zucken, die Männer brüllen, Wasser und Blut spritzen.

Bis zu den Knien stehen die Männer im Eis. Mit Messern stechen sie den Fischen unter den Brustflossen ins Herz. Bald färben sich die Wannen rot mit dem Blut der Tiere. Dass diese Art des Fischens grausam sein soll, versteht hier niemand. "Wenn alle so wie wir nur an den Küsten und in kleinen Booten fischen würden, dann wären die Bestände des Roten Thunfischs im Mittelmeer auch nicht gefährdet", sagt Puggioni.

Slow Food: Nachhaltige Fischerei

"Die Mengen, die von den Carloforte-Fischern gefangen werden, fallen tatsächlich nicht ins Gewicht", bestätigt Cinzia Scaffidi, Direktorin des Slow-Food-Studiencenters und Ko-Autorin des Buches Guarda che mare, Come salvare una risorsa (Sieh mal, was für ein Meer - Wie eine Ressource gerettet werden kann). Immer schon, so Scaffidi, habe sich der Verein Slow Food für die Bewahrung der traditionellen und nachhaltig ausgeübten Küstenfischerei eingesetzt.

"Einmal im Jahr kommen die Schwärme hier vorbei. Und seit Jahrtausenden werden sie auf diese Art gefischt. Wirklich brutal und weit unmenschlicher ist doch vielmehr das Vorgehen der industriellen Fangflotten, die den Thunfischschwärmen nachjagen und alles nehmen, was sie kriegen können", sagt Scaffidi.

Die fettreichsten Fische für Japan

Gleich nachdem sie den Fang gelandet haben, beginnen die Fischer mit dem Ausnehmen der Tiere. Einiges wird sofort abgeholt und geht als Frischfisch nach Mailand oder Rom und via Flugfracht weiter bis nach Tokio. Die Japaner aber wollen nur die fettreichsten Exemplare, dafür sind sie auch bereit, ein Vielfaches des normalen Preises zu zahlen. Der Rest wird in den Fischgeschäften der Insel frisch verkauft (das Kilo um wohlfeile zwölf Euro) und auf der Hauptinsel Sardinien in Olivenöl und Dosen gepackt. Die Eiersäcke und Herzen der Fische schließlich werden vor Ort luftgetrocknet und als intensiv schmeckende Bottarga verkauft, die pur, mit Olivenöl genossen oder auf Pasta gehobelt wird.

Fest des Thunfischs

Alljährlich, gegen Ende Mai, veranstaltet der Ort Carloforte den Girotonno, ein Fest rund um den Thunfisch und die Mattanza. Dann werden die Häuser dekoriert, in den Straßen wird musiziert und gefeiert. Aus aller Welt reisen Köche an und messen sich im Zubereiten des Thunfischs. Doch es wäre nicht Italien, wenn die Einwohner sich überreden ließen, eine andere als die lokalen Zubereitungsarten (wie die intensive Pasta al Tarantello mit frisch angerösteten Thunfisch- Innereien) besser zu finden. "Carloforte ist Thunfisch und Thunfisch ist Carloforte", ist auf einem Transparent zu lesen.

Doch seien in letzter Zeit auch einige Probleme aufgetreten, bekennt Cinzia Scaffidi. Offenbar nämlich habe die Aufwertung des Roten Thunfischs aus Carloforte durch Slow Food dazu geführt, dass heute verdächtig viel davon im Handel ist.

"Gemeinsam mit der Fischereikooperative Carloforte versuchen wir herauszufinden, ob all dieser Fisch tatsächlich von dort und aus kleiner und nachhaltiger Küstenfischerei stammt. Wenn dem nicht so ist, müssen wir uns natürlich distanzieren", sagt Scaffidi. Und sollte das geschehen, würde es wohl das endgültige Aus bedeuten für den letzten Roten Thunfisch, den man noch reinen Gewissens essen kann. (Georg Desrues, Rondo, DER STANDARD, 20.4.2012)