"In Wien um 1900 war es ganz normal, dass sich Künstler und Wissenschafter trafen." Eric Kandel bedauert, dass solche Begegnungen heute kaum mehr stattfinden.

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STANDARD: Sie haben alles erreicht, was man als Wissenschafter erreichen kann. Warum haben Sie es sich dennoch angetan, ein neues Buch zu schreiben, in dem es um etwas anderes geht als in Ihrer Forschung, nämlich um die Beziehungen von Anatomie, Neurowissenschaft und Kunst?

Kandel: The Age of Insight ist für mich vor allem der Versuch, den Kreis meines Lebens zu schließen - und zwar in doppelter Weise: Zum einen geht es dabei um meine alte Liebe zur Kunst, zum anderen um mein Verhältnis zu Österreich und Wien.

STANDARD: Wie sieht das heute aus - 73 Jahre nach Ihrer erzwungenen Emigration aus dieser Stadt?

Kandel: Das war die längste Zeit sehr negativ, dann wurde es ambivalent, und nun schwingen angenehme Obertöne mit. Was unter anderem daran liegt, dass ich Bundespräsident Heinz Fischer gut kenne und ihn sehr schätze. Ich war auch sehr froh, als ich hörte, dass der Dr. Karl-Lueger-Ring umbenannt wird, was ich seit Jahren forderte. Auf diese Weise erlebe ich eine Art von Versöhnung mit Österreich und Wien.

STANDARD: Wien spielt in Ihrem neuen Buch eine wichtige Rolle. Und so wie Carl Schorske in "Fin de-Siècle-Vienna" beschäftigen Sie sich mit der Kunst um 1900 - allerdings aus anderen Perspektiven.

Kandel: Richtig. Schorkes Buch über Wien ist ein Klassiker, und es hat mich sehr stark beeinflusst. Es ist einfach großartig, wie er das Konzept der Ringstraße analysiert oder was er über Otto Wagner und seine Architektur schreibt. Doch sein Buch beschäftigt sich nicht mit der Wissenschaft und der Medizin dieser Zeit und ihren Querbeziehungen zur Kunst. Das halte ich für eine große Lücke.

STANDARD: Warum?

Kandel: Weil die Kunst sehr stark davon geprägt war. In Wien um 1900 war es ganz normal, dass sich Künstler und Wissenschafter trafen - wie etwa im Salon von Berta Zuckerkandl. Dort begegnete etwa Gustav Klimt dem Anatomen Emil Zuckerkandl, Bertas Mann. Diesen Kontakt vermittelte Klimt neues medizinisches und anatomisches Wissen, das wieder in seine Bilder einfloss. Solche Begegnungsorte von Wissenschaft und Kunst sind heute leider verschwunden.

STANDARD: Sie beschäftigen sich in "The Age of Insight" aber auch mit der Neuroästhetik. Was hat man sich darunter vorzustellen?

Kandel: Das ist ein neues Feld, das erst ganz am Beginn steht und in dem versucht wird, die Gehirnvorgänge zu analysieren, die bei der Wahrnehmung von Kunst eine Rolle spielen. Ich habe mich deshalb auch nur auf einen kleinen Ausschnitt der Kunst beschränkt, nämlich das Porträt.

STANDARD: Was war der Grund dafür?

Kandel: Das ist ganz einfach: Wir wissen neurowissenschaftlich bereits recht gut, wie das Erkennen von Gesichtern im Gehirn funktioniert. In diesem Sinn ist diese Beschränkung auf das Porträt und drei große österreichische Maler - neben Klimt auch noch Schiele und Kokoschka - auch ein reduktionistischer Ansatz. Das hat natürlich auch seine Schwächen und Grenzen, aber ich habe viel dabei gelernt. Und es hat mir viel Spaß gemacht und war ein wunderbares Abenteuer.

STANDARD: In Ihrem Buch unterstreichen Sie auch die Bedeutung des Unbewussten für neue Ideen in Kunst und Wissenschaft. Wie wichtig waren und sind solche Eingebungen für Ihre eigene Arbeit?

Kandel: Definitionsgemäß ist das Unbewusste etwas, dessen man sich nicht bewusst ist. Insofern ist das schwer zu sagen. Aber Wien zum Beispiel hat sicher einen großen und lange unbewussten Einfluss auf mein Leben gehabt - positiv wie negativ, genauso wie bestimmte Personen.

STANDARD: Können Sie ein Beispiel nennen?

Kandel: Unbewusst einflussreich war sicher mein Bruder, der älter war und schon ins Gymnasium Wasagasse ging, als ich noch die Volksschule besuchte. Er lernte Griechisch und Latein, während ich gerade lesen lerne. Deshalb hatte ich sehr lange das Gefühl, in seinem Schatten zu stehen, weil alle zu mir sagten: "Ah, du bist der Bruder vom Ludwig Kandel." Das änderte sich erst, als ich meine Frau Denise traf, die überzeugt war, dass ich viel interessantere und kreativere Dinge mache als mein Bruder. Das gab mir Selbstvertrauen für meine weitere Arbeit - und so lernte ich auch, meinen Eingebungen zu vertrauen.

STANDARD: Kommen Sie heute neben dem Schreiben des Buchs auch noch zum richtigen Forschen?

Kandel: Unbedingt! Ich arbeite heute viel mehr und intensiver als vor zwanzig Jahren.

STANDARD: Das heißt, Sie sind jeden Tag in Ihrem Labor an der Columbia University in New York?

Kandel: Ja. Ich habe auch sehr gute Mitarbeiter, mit denen ich nach wie vor interessante Forschung mache. Der einzige Unterschied ist, dass ich heute noch mehr Unterstützung durch Kollegen und mehr Ressourcen habe, was es ermöglicht, nebenbei auch noch andere Dinge zu tun und in weniger Zeit mehr zu machen. Ich fürchte mich ja ein wenig davor, zu einer Art Filmstar zu werden.

STANDARD: Wie das?

Kandel: Es gibt ja nicht nur einen Film über mich. Gemeinsam mit dem US-Fernsehmoderator Charlie Rose habe ich eine Fernsehserie über das Gehirn gemacht. So kommt es, dass mich wildfremde Leute im Museum ansprechen und sagen: "Sie müssen Eric Kandel sein." Ich würde es wirklich vorziehen, als seriöser Forscher in Erinnerung zu bleiben!

STANDARD: Aber die Kommunikation von Wissenschaft gehört doch auch zum modernen Forscherleben.

Kandel: Das stimmt. Und ich möchte auch, dass die Wissenschaft ein integraler Bestandteil unserer Kultur wird und wir uns damit so gut auskennen wie mit Fußball oder Tennis. Was Sie als Wissenschaftsjournalist machen, ist auch gesellschaftspolitisch enorm wichtig: In einer demokratischen Gesellschaft müssen wir Bürger Entscheidungen treffen, und immer mehr dieser Entscheidungen betreffen auch Technologien. Deshalb ist es nötig, sich auch ein wenig mit Wissenschaft auszukennen - einmal abgesehen vom intellektuellen Spaß, der damit verbunden ist.

STANDARD: Apropos: Ihr Freund, der Quantenphysiker Anton Zeilinger, zeigt bei der gerade laufenden Documenta in Kassel wissenschaftliche Experimente. Was halten Sie von solchen Aktionen?

Kandel: Das ist wunderbar! Genauso wie seine populären Bücher über Quantenphysik.

STANDARD: Zeilinger war auch der Ideengeber für das IST Austria in Maria Gugging, das Sie wissenschaftlich beraten. Wie schätzen Sie die Entwicklung des Ista ein?

Kandel: Das Institut entwickelt sich prächtig, was mich sehr freut.

STANDARD: Sie meldeten sich dort unlängst bei einer Diskussion zu Wort, in der es um die Kommerzialisierung von Forschung ging. Sie waren diesbezüglich sehr kritisch.

Kandel: Da argumentierten einige Leute am Podium, dass Wissenschafter mehr zu Entrepreneuren werden sollten und man die Forscher dazu ermuntern sollte, kommerzieller zu denken, Publikationen zurückzuhalten, um leichter zu Patenten zu kommen und anderen Unsinn. Ich saß im Publikum, und irgendwann musste ich einfach aufstehen und Ihnen meine Meinung sagen.

STANDARD: Und die wäre?

Kandel: Mein einziger Wunsch war und ist, dass am IST Austria hervorragende Wissenschaft betrieben wird. Wenn das passiert, dann werden auch Entrepreneure kommen, um diese Ideen zu patentieren und umzusetzen.

STANDARD: Wie war das bei Ihnen? Sie waren doch auch an der Gründung einer Firma beteiligt, die an Pillen gegen Gedächtnisverlust bei älteren Menschen arbeitet.

Kandel: Ich forschte an dem Thema und hatte einige neue Erkenntnisse. Eines Tages kam jemand, der die Firma gründen wollte. Das hat meine Forschung in keiner Weise verändert, und ich habe deshalb auch kein einziges Forschungsergebnis zurückgehalten. Ich musste dafür auch kein Entrepreneur werden, sondern blieb, was ich bin: ein Wissenschafter. (Klaus Taschwer, DER STANDARD, 27.6.2012)