Samuel R. Delany: "Nimmèrÿa 1: Geschichten aus Nimmèrÿa"
Klappenbroschur, 380 Seiten, € 17,40, Golkonda 2012 (Original: "Tales of Nevèrÿon", 1979)
A child's garden of semiotics nannte Großmeister Samuel R. Delany einmal seine legendäre vierteilige Reihe "Return to Nevèrÿon". Die ersten drei Bände sind Anfang der 80er Jahre bereits auf Deutsch erschienen. Die Übersetzung von damals - inklusive der recht geglückten Übertragung "Nimmèrÿa" - wurde nun noch einmal überarbeitet und um Fehlendes ergänzt. Alle vier Teile werden der Reihe nach bei Golkonda erscheinen und damit ein ziemlich einzigartiges Erzählwerk in angemessener Form wieder zugänglich machen.
Man scheut sich etwas, von einer "Fantasy-Serie" zu sprechen. Denn ja, sie entfaltet sich zwar vor dem Hintergrund einer fiktiven Welt in der fernen Vergangenheit der Menschheit, kurz vor Einsetzen der bekannten Geschichtsschreibung. Und ja, Delany greift damit bewusst ein Sword-and-Sorcery-Szenario auf, wie es Robert E. Howard in den 1930er Jahren für seinen Pulp-Helden Conan den Barbaren entwickelte - mit Ländern, die die heutige Geografie erahnen lassen, aber doch ein wenig im Nebel bleiben. Aber gleichzeitig macht Delany daraus etwas völlig anderes.
Zur Vorbereitung
Wer beim "Herrn der Ringe" schon über den Prolog zur Hobbit-Soziologie gestöhnt hat, dem wünsche ich viel Spaß, wenn erst die Literaturwissenschafterin K. Leslie Steiner im Vorwort zu "Geschichten aus Nimmèrÿa" loslegt. Der ganze Erzählzyklus ist in einen geisteswissenschaftlichen Rahmen eingebettet - siehe auch die Bezugnahmen auf unter anderem Claude Lévi-Strauss, Jacques Derrida oder Michel Foucault im Nachwort oder in den Einleitungen, die den einzelnen Stories vorangestellt sind. Das lässt unwillkürlich an China Miévilles "Embassytown" zurückdenken - freilich eine reine Spielerei im Vergleich zu dem Grad, in dem Delany, an mehreren US-Unis unterrichtender Professor-ohne-Abschluss und eine echte literaturwissenschaftliche Koryphäe, die Semiotik intus hat.
Frau Steiner oder den Verfasser des Nachworts, S. L. Kermit, gibt es übrigens ebensowenig wie das Culhar'-Fragment, das "älteste Schriftstück der Menschheit", das Delany zum Ausgangspunkt seiner Erzählungen nahm. Wenn die weiteren Bände der Reihe erscheinen, die teilweise in den USA der Gegenwart angesiedelt sind, werden wir Steiner sogar als Handlungsfigur wiederbegegnen. Kurz: "Nimmèrÿa" ist keine in sich geschlossene, schön säuberlich von unserer getrennte Phantasiewelt, in die man sich mal eben zum Abschalten hineinflüchten kann. Mit Erzählungen, die sich laufend selbst reflektieren, sind wir mitten drin in der Postmoderne. Beziehungsweise in einem erzählerischen Spiegelkabinett, wie es im Vorwort heißt, das damit den gewünschten Interpretationsrahmen gleich selbst liefert.
Da Delany als einer von wenigen Genre-AutorInnen auch als "echter Literat" wahrgenommen wird, ist dieser ganze Kontext natürlich schon volle Länge mal Breite abdiskutiert worden. Ein Detail, das für die Literaturwissenschaft kaum von Belang zu sein scheint, soll hier aber auch nicht verschwiegen werden. So ganz nebenbei fungiert das in seiner Theorieentfaltung etwas einschüchternde Vorwort nämlich auch als raffinierter Teaser und gibt uns einen Ausblick auf die verlockenden Handlungselemente, mit denen die Geschichten natürlich auch aufwarten: Also mit Barbaren, Drachen, versunkenen Städten, Schilfrohren und Erinnerungszeichen, ihren mit Doppelklingen bewaffneten Kriegerinnen, Kindkaiserinnen, einäugigen Träumern und geheimnisvollen Gummibällen ... Moment ... GUMMIBÄLLEN? Na bitte, schon ist das Interesse geweckt. Tatsächlich wird dieses seltsame Spielzeug, das nicht unbedingt zum Standard-Inventar der Fantasy gehört, immer wieder durch die Erzählungen hüpfen.
Zum Inhalt
Zentrale Figur der Reihe, auch wenn er nicht in jeder einzelnen Episode vorkommt, ist Gorgik. In einer Hafenstadt aufgewachsen, verliert er seine Eltern bei einem blutigen Machtwechsel und wird in die Sklaverei verschleppt. Später macht er jedoch eine erstaunliche Karriere vom Minenarbeiter über das Sexspielzeug einer Hofdame bis zum Händler und Outlaw - und schließlich zur lebenden Legende. Gorgik kehrt erst in der dritten Erzählung wieder und wird später mal im Vordergrund stehen, mal nur eine Nebenfigur bleiben. Seine selbstgewählte Lebensaufgabe, die Befreiung aller Sklaven, wird aber das Gerüst bilden, an dem sich die einzelnen lose verbundenen "Nimmèrÿa"-Episoden aufziehen.
Einen befreiten Sklaven, den "Barbarenprinzen" Sark, nimmt sich Gorgik zum Gefährten - in glücklicher Sadomaso-Zweisamkeit führen die beiden anschließend die große Mission weiter. Dass das Sklavenhalsband, abwechselnd getragen, Gorgik zur sexuellen Erfüllung dient, ist aber keine bloße Pointe: Das Symbol der Unterdrückung wird umfunktioniert zu einem der individuellen Entfaltung. Das fügt sich nahtlos in eine lange Reihe von Faktoren ein, mit denen Delany gängige (oder zumindest damals gängige) Muster der Fantasy auf den Kopf stellte: Die Weißen sind hier die Barbaren am Rande der Zivilisation, Frauen haben oft größere Macht als Männer, Drachen sind keine furchterregenden Bestien, sondern fragile, kaum überlebensfähige Geschöpfe und so weiter und so fort. Und der ziemlich deftige Schöpfungsmythos mit einer weiblichen Gottheit, der in Teilen Nimmèrÿas kursiert, ist auch nicht ohne.
Am Anbeginn der Zeit
Zugleich weiß Delany sehr genau, wie Mythen funktionieren, und erschafft eine Welt, in der sich die Sagas realer Kulturen der Vergangenheit widerspiegeln. Die "Rückkehr nach Nimmèrÿa" bedeutet eigentlich eine Reise in den Mythos, in eine Art Gründerzeit, in der alles begann. In der man die Namen derer noch kennt, die Basics wie Schlüssel und Schlüsselloch oder das Navigieren nach den Sternen erfanden. Die teilweise sogar noch leben. Eine Zeit also, in der die Zivilisation selbst gerade erst erfunden wurde und kaum noch mehr als eine Option darstellt. Man glaubt sogar vielleicht noch daran, sich gegebenenfalls dagegen entscheiden zu können, wie die alte Venn in der zweiten Geschichte dieses Bands.
Venns Überlegungen zum Geldwesen (noch so ein neumodischer Kram) sind übrigens ausgesprochen vergnüglich zu lesen. Genauso wie ein Seitenhieb auf etwas, das in dieser Welt nur ein spinnertes Konzept ist, bei uns aber die Freud'sche Psychoanalyse hieße. Generell wird in den "Nimmèrÿa"-Geschichten eindeutig mehr philosophiert als gekämpft - und am liebsten über die Macht der Zeichen, der Sprache und des Erzählens.
Auf die Erwartungshaltung achten!
Der "Nimmèrÿa"-Erzählzyklus wurde vier Jahre nach Delanys Hauptwerk "Dhalgren" begonnen und steht diesem an Komplexität in nichts nach. Es ist damit weit entfernt von Delanys Frühwerken aus den 60ern ("Die Ballade von Beta-2", "Imperiums-Stern"), die ausgezeichnete Science Fiction, aber eben auch eindeutige Genre-Werke waren. Und es ist himmelweit entfernt von nahezu allem, was man sich üblicherweise unter Fantasy vorstellt. Autoren wie Jeff VanderMeer und ganz zaghaft vielleicht noch Patrick Rothfuss mögen andeuten, was Delany hier in Exzellenz ausgearbeitet hat. Zu Fantasy à la Brent Weeks oder Brandon Sanderson gibt es hingegen keinerlei Brücke. Oder korrekterweise müsste man eigentlich sagen: Von dort gibt es keine Brücke in unsere Welt, denn in der ist und bleibt "Nimmèrÿa" fest verankert. Definitiv keine Lektüre zum Abschalten.