Apfelbauer Hans-Rudolf Schweizer aus dem Thurgau in der Schweiz ist einer jener Helden des Alpenraums, die im Buch porträtiert werden.

Foto: sylvain müller

Schweizer kultiviert alte lokale Apfelsorten (von links oben nach rechts unten): Weyrouge, Tobiässler, Bohnapfel, Nägeliapfel, Kanadarenette, Damasonrenette, Rothenhauser, Roter Konstanzer.

Foto: sylvain müller

Fotograf Sylvan Müller und Autor Dominik Flammer haben für ihr Buch die Alpen rauf- und runterrecherchiert. Herausgekommen ist ein Band, der den kulinarischen Reichtum dieses europäischen Kulturraums in prächtiger Weise dokumentiert.

Foto: sylvain müller
Foto: sylvain müller

STANDARD: Sie haben drei Jahre in den Alpen recherchiert, Prosciutto von der Ziege, aufgeblasene Fische, Murmeltier gekostet und Tee aus Kirschenstielen getrunken. Was ist für Sie persönlich das wertvollste kulinarische Erbe der Alpen?

Dominik Flammer: Das sind wohl die Lebensmittel, die ich aus meiner unmittelbaren Heimat in der Ostschweiz kenne. So ist das ja mit Dingen aus der Kindheit: Wenn man die nach dreißig, vierzig Jahren zum ersten Mal wieder schmecken darf, berühren sie einen auf ganz persönliche Weise.

STANDARD: Was konkret?

Flammer: Viele Dinge, die schon fast verschwunden waren und erst jüngst wieder entdeckt wurden. Ich denke an Appenzeller Schnittwurst, an Riebelmais aus dem Rheintal, der auch in Vorarlberg eine Renaissance erlebt, an Gerichte aus der Leber von Bodenseefelchen. Früher waren die noch Teil des Speiseplans. Bei der Recherche in anderen Gegenden der Alpen aber habe ich sie immer wieder in ähnlicher Form entdeckt und gemerkt, dass meine Heimat viel größer ist als das, was ich als Kind wahrgenommen habe.

STANDARD: Waren Sie gut in Geografie?

Flammer: Eigentlich schon.

STANDARD: Mit dem Waldviertler Mohnöl und den Bohnen von Leopold Leder aus dem Weinviertel stellen Sie aber gleich zwei Produkte von jenseits der Donau als alpin dar ...

Flammer: (lacht) Ja, klar! Uns ging es nicht einzig darum, was im Alpenraum angebaut und gezüchtet wird, sondern um das, was ihn kulinarisch definiert. Da gehört der Jamaikapfeffer - Piment - als zentrales Gewürz alpiner Wursttradition genauso dazu, wie eben der Mohn und die Tradition, ihn nicht nur als Gewürz sondern auch als Ölpflanze zu nutzen. Heute ist das nur noch im Waldviertel lebendig, früher aber war Mohnöl im Alpenraum ein ganz wichtiges Fett - in der Schweiz als "Mägiöl" bekannt und eines der wichtigsten Öle überhaupt. Das lässt sich alles im Buch nachlesen.

STANDARD: Es fällt auf, dass viele Produzenten Quereinsteiger sind. Kann diese Art von Neo-Landlust ein Rezept gegen die Entvölkerung der Alpen sein?

Flammer: Sicher gibt es Leute mit gut gepolstertem Bankkonto, die jetzt ein bisschen Bauer spielen wollen - aber nicht im Buch. Da haben wir nur Leute porträtiert, die ihre Existenz mit ihren Produkten gefunden haben. Viele Neueinsteiger, richtig, aber die sind enorm wichtig, weil sie bei der Vermarktung oft ein besseres Verständnis mitbringen als alteingesessene Landwirte.

STANDARD: Zum Beispiel?

Flammer: Die Freiland-Schweinezucht am Labonca-Biohof in der Steiermark zum Beispiel! Wo der Koch Franz Wirth ein sehr zeitgemäßes, an der Marktwirtschaft orientiertes Modell eingebracht und mit der Veredelung seines Produkts vor Ort einem Hof neues Leben eingehaucht hat, der sonst wohl in Schwierigkeiten geraten wäre. Ich will der traditionellen Landwirtschaft nichts vorwerfen - aber mit Vermarktung hat sie sich eigentlich kaum je auseinandergesetzt.

STANDARD: Wenn Sie in Slowenien die letzte aktive Schiffsmühle Europas aufspüren, dann ist das aber eher Museumsarbeit als ein Beispiel innovativen Marketings, oder?

Flammer: Selbstverständlich. Aber wir müssen uns bewusst werden, wie sehr unsere Kultur und Innovation auf der Tradition fußt. Da ist so eine Mühle, die auf einem vertäuten Boot inmitten eines Flusses die Wasserkraft nutzt, schon ein faszinierendes Beispiel für den Einfallsreichtum und das Genie unserer Vorväter. Diese Mühle mag ein Museumsstück sein, aber sie ist auch ein Unternehmen, das bis heute seine Betreiber ernährt - ganz genau so, wie sie das vor Jahrhunderten auch schon getan hat. Und das Brot, das aus so einem steinvermahlenen Mehl gebacken wird, schmeckt auch ganz unglaublich viel besser.

STANDARD: Auf die Dauer muss der Mehrwert, der aus solcher Tradition generiert wird, sich aber auch auf dem Markt durchsetzen können. Oder soll das einfach als Kulturgut subventioniert werden?

Flammer: Das tut er doch! Nehmen Sie das Beispiel der österreichischen Obstbrenner, die sich all dieser alten Wildobstsorten angenommen haben. Ob Zirbe, Schlehe, Dirndl, oder wie sie alle heißen: alles Dinge, die in extrem mühsamer Arbeit in Kleinstmengen gesammelt werden, um daraus noch viel kleinere Mengen Schnaps herzustellen. Da hätte doch jeder hochprofessionelle Großbrenner sofort abgewinkt, weil sich das niemals rechnen kann, viel zu teuer kommt und sich unmöglich verkaufen lässt. Und dennoch haben sich da einige - und es werden immer mehr - mutige Bauern gefunden, die sich genau darauf spezialisiert haben und in unheimlich konzentrierter Arbeit ganz rare, herausragende Delikatessen entwickelt haben, für die ihr heute auf der ganzen Welt beneidet werdet.

STANDARD: Dementsprechend heroisch werden die Bauern und Jäger und Sammler in Ihrem Buch auch dargestellt. In ganzseitigen, edlen Porträts werden sie als knorrige Einzelkämpfer, als bäuerliche Superhelden porträtiert. Sind sie die selbstlosen Retter der alpinen Kultur und des guten Geschmacks?

Flammer: Für mich sind das Helden, absolut. Und wir wollten sie auch so darstellen: Menschen, die ihr Leben Lebensmitteln widmen, die - zumindest bei mir - große Emotionen auslösen. Davon gibt es in unserer Welt industrieller Massenproduktion nicht mehr viele, deshalb suchen wir ja alle danach.

STANDARD: Im Buch wird offenbar, welch außerordentliche Zähigkeit notwendig war, um die Berge über Jahrtausende zur Kulturlandschaft umzuformen ...

Flammer: ... und zwar in größter Not und in unendlich mühsamer Handarbeit! Wälder roden, Kanäle ausheben, reißende Flüsse regulieren, steilste Hänge für den Anbau terrassieren ...

STANDARD: ... was aber heute aus ökonomischer Sicht weitgehend obsolet erscheint. Der ehemalige EU-Landwirtschaftskommissar Fischler glaubt, dass die Bergbauern in Zukunft auf Landschaftspfleger umsatteln müssen.

Flammer: Das ist eine reale Gefahr. Um das zu verhindern, müssen alpine Bauern sich auf regionale Nischen konzentrieren und ihre Grundprodukte veredeln lernen. Nur Milch produzieren und diese wie bisher bei der Genossenschaft abliefern wird nicht reichen, das können andere ganz entscheidend billiger. Dasselbe gilt für alle Bereiche. Ich habe in Norddeutschland einen Betrieb besucht, der 14,4 Millionen Schweine zählt - dagegen können sie nicht an, und das sollen sie auch nicht wollen.

STANDARD: 14,4 Millionen Tiere in einem Betrieb?

Flammer: Klingt irr, ist aber die Realität europäischer Landwirtschaft. Damit alpine Bauern im Umfeld derartiger Betriebe wettbewerbsfähig bleiben, müssen sie einen anderen Weg gehen.

STANDARD: Wie könnte der aussehen?

Flammer: Regionale Vermarktung einerseits, Veredelung anderseits. In Tirol zeigt das etwa ein Betrieb vor, der aus der Milch von traditionell almweidenden Tiroler Graukühen tolle Schokolade herstellt und damit ein Markenprodukt geschaffen hat. Diese traditionellen Nutztierrassen sind eine wertvolle Gen-Ressource für kommende Jahrhunderte. Nur - überleben werden sie nur, wenn heute schon etwas Profitables aus ihm entstehen kann.

Ihr macht das in Österreich inzwischen wirklich gut. Die Steiermark hatte doch vor wenigen Jahrzehnten einige der ärmsten Landstriche Österreichs zu verzeichnen - aus diesen Gegenden sind heute boomende Tourismusregionen geworden, und zwar nur wegen einer Besinnung auf alte Traditionen und dem Verständnis, diese richtig zu vermarkten. Wir haben große Sehnsucht nach guten, echten Dingen. Deswegen bin ich im Gegensatz zu anderen auch gar nicht pessimistisch, was die Zukunft des Kulturraums der Alpen angeht. (Severin Corti, Rondo, DER STANDARD, 14.12.2012)