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"Ein Trank in der Sommerhitze befriedigt den Dürstenden auf andere Weise als einer in der Winterkälte."

Foto: apa / dpa/Claudia Otte

1. Aus der Unterhaltungsbranche und dem Fernsehen wissen wir, dass erst ein bestimmter Grad an Geschmacklosigkeit erreicht werden muss, damit etwas gefällt. Die Geschmacklosigkeit als kulturelles Phänomen hat viele Facetten, aber wenig mit der gleichnamigen Qualität in der Wasserwirtschaft zu tun. Per definitionem wird als gutes und bekömmliches Trinkwasser in Mitteleuropa nämlich jenes bezeichnet, das " farb-, geruch- und geschmacklos" ist.

Damit das Wasser so weit komme, weder Geruch noch Geschmack oder Farbe zu haben, hat früher nicht viel geschehen müssen, früher, als es noch die Bergquelle der vorindustriellen Ära war, an der sich die Menschen ihr Wasser holten. Seitdem in Europa das Wasser nicht mehr geholt, sondern gebracht wird, ist seine Geschmacklosigkeit keine selbstverständliche Sache mehr.

Damit es uns im erwünschten Zustand erreiche, ist ein ausgeklügeltes System von Speicherung und Transport, Kontrolle und Korrektur, von Nutzung natürlicher Ressourcen und Anwendung technischer Erfindungen vonnöten. Das munter sprudelnde Quellwasser, von dem in den alten Liedern gesungen wird, gilt längst als prekäre Beimischung jenes Wassers, das über hunderte Kilometer in die Städte gepumpt wird. In ihm ist nämlich die Konzentration an Schadstoffen besonders hoch, weil diese über den sauren Regen binnen weniger Stunden ins Quellgebiet einsickern. Das bessere Wasser kommt heute aus der Tiefe, mitunter aus einer von 100 Metern, eine Tiefe, die man sich einprägsam als umgedrehte Höhe von drei aufeinandergesetzten Kirchtürmen vorstellen kann.

Mindestens zehn Tage, oft ein paar Wochen braucht das Regenwasser, bis es an der Spitze des letzten Kirchturms angekommen ist, auf wundersame Weise gereinigt durch die Schichten von Stein und Schotter, die es bis dorthin durchsickern musste. Solche Selbstreinigung ist bei kulturindustriellen Produkten eher selten, deren Geschmacklosigkeit in der Regel aber auch nicht das Ergebnis langwieriger Prozesse ist, sondern aus vorgefunden Fertigbauteilen rasch zusammengesetzt werden kann.

2. Was uns als Geschmack oder dessen angenehmes Fehlen vertraut ist, verdankt sich weniger unseren natürlichen Anlagen als kulturspezifischen Erfahrungen. Die Beschäftigten der Hotellerie wissen es: Amerikanische Touristen trinken kein Wasser, das geruchlos ist. Solches halten sie nämlich für hygienisch unzureichend aufbereitet, weil sie schon als Kinder gelernt haben, dass Trinkwasser jene Flüssigkeit ist, die nach Chlor riecht.

Nach Chlor, an dem die Amerikaner das Trinkwasser identifizieren, darf dieses bei uns hingegen nur in Krisenfällen riechen, dann nämlich, wenn lange Trockenperioden die Zahl von Foliebakterien im Wasser dramatisch ansteigen lassen. Dann wird unser Wasser mit Chlorkalk-Pulver versetzt, aber da die Beigabe schwach bleibt, bemerken es die meisten nicht. Anders die Kühe, die auf den Äckern oder in den Ställen stehen und das Trinken verweigern; tierisch schmecken sie das zugefügte Chlor heraus und dürsten lieber, als dass sie trinken, was ihnen durch seinen ungewohnten, spezifisch menschlich-chemikalischen Geschmack verdächtig ist.

3. Wiewohl es geschmacklos ist, schmeckt Wasser nicht immer gleich. Wir haben es mit dem rätselhaften Umstand zu tun, dass das Abwesende nicht einfach abwesend ist, sondern dies auf verschiedenartige Weise tut; erst so entsteht, was es eigentlich gar nicht geben dürfte, nämlich eine reich nuancierte Abstufung des Geschmacklosen. Der erste Schluck morgens ist kaum zu vergleichen mit dem letzten nach einem langen Tag. Das Glas auf nüchternen Magen schmeckt anderes als jenes, das in den vollen Bauch geleert wird. Ein Trank in der Sommerhitze befriedigt den Dürstenden auf andere Weise als der in der Winterkälte.

Wer nächtens schon einmal durstig erwacht ist, etwa weil er zu viel Alkohol getrunken hat, dem wird die merkwürdige, die Löschung des Brandes verzögernde Süße aufgefallen sein, die das Leitungswasser dann hat; in dieser Situation heißt es unbesorgt und tüchtig weiter trinken, es handelt sich fast ausnahmslos um eine subjektive Wahrnehmung, keinen objektiven Zustand des Wassers.

Auch das Gefäß, aus dem Wasser getrunken wird, hat seine Wirkung auf den Geschmack der geschmacklosen Flüssigkeit. Historisch und entwicklungspsychologisch das wichtigste Gefäß ist die Handmulde. Zu lernen, fließendes Wasser in der gerundeten Hand so aufzufangen, dass man daraus trinken kann, ist eine Technik, die zu erwerben Kinder einige Jahre brauchen. Wenn sie richtig erwachsen geworden sind, fühlen sich manche von ihnen genötigt, sie wieder zu verlernen, weil sie das Trinken mittels der Hand für unzivilisiert halten und dafür ein Gefäß benötigen.

Die Tasse, in der der Tee mundet, ist dem Genuss kalten Wassers durchaus abträglich, was jeder leicht ausprobieren kann, denn Porzellan macht das Wasser weich, im Gegensatz zu Glas. Und wer einmal einen Kieferbruch hatte wie ich, der weiß, dass das Trinken mittels Strohhalm anders als bei Fruchtsäften bei Wasser eine Qual ist: nicht weil man so lange brauchte, um eine ordentliche Menge zu bewältigen, sondern weil das Wasser, wird es eingesogen, schal schmeckt.

4. In Berlin fiel mir einmal eine Werbebroschüre in die Hände, in der das Amt für städtische Wasserversorgung das Berliner Trinkwasser anpries. Für die Bewohner der Hauptstadt ist das Beste gerade gut genug, und dass es so bleibe, hat die Stadt Geschmacksprüfer angestellt. Deren dienstliche Obliegenheit ist es, das Wasser, mit dem täglich die Großbehälter gespeist werden, nach Geruch und Geschmack zu bewerten, und damit sie dieser Aufgabe gerecht werden, ist es ihnen verboten, vor Dienstantritt zu rauchen, Rasierwasser und Deodorants zu verwenden oder Nase und Gaumen mit deftigen Speisen unempfindlich für die feinen Nuancen des Elements zu machen, das sie zu bewerten haben. Bei der Aufnahmsprüfung müssen die künftigen Wasserprüfer hartes von weichem, aromatisiertes von natürlichem, desinfiziertes von unbehandeltem Wasser unterscheiden und eine ganze Serie flüssiger Geschmacksrichtungen exakt benennen können.

Das ist natürlich eine schwierigere Aufgabe als jene, der sich Önologen, die Weinverkoster von Berufs wegen, zu unterziehen haben. Denn die verschiedenen Weine weisen ja markant ausgeprägte Unterschiede auf, die selbst dem Laien auffallen. Wer nun meint, dass anders als beim edlen Wein das ordinäre Wasser einfach Wasser sei, möge sich nicht nur von den Berliner Geruchsexperten eines Besseren belehren lassen, sondern abschließend auch von mir, der ich hier das Ergebnis meiner jahrelangen privaten Forschungen, den Geschmack des Trinkwassers betreffend, endlich der Öffentlichkeit vorlege.

Die Wasserverkostung

New York Das Leitungswasser von New York besticht durch seine elegante, leicht gelb-grün schimmernde Farbnote, überzeugt schon beim Antrunk mit robust stechendem Geschmack, ruft beim Schlucken das signifikante Chlor-Würgen hervor und erinnert im Abgang melancholisch an längst vergangene Schwimmnachmittage im Hallenbad.

London Das kredenzte Glas verblüfft mit leichtem Rostton, wird von dem überwältigen Geschmack der Privatisierung dominiert, wie er einzig durch sparsame Wartung des Rohrsystems und verschwenderische Beigabe von entkeimenden Chemikalien erreicht werden kann, und entfaltet sein ganzes Potenzial bei jenen 16 Grad Celsius, mit denen das Wasser den Sommer über aus der Leitung rinnt.

Neapel Hierbei handelt es sich um einen Pseudobarrique, zur Reife ausgebaut in den Kanälen der Spätantike, insgesamt ein echter, geschmacks- wie geruchsintensiver Klassiker der Foliebakterienkultur. Passt hervorragend zu Zahnpasta und lässt in seiner durchschlagenden Wirkung jedes Abführmittel vergessen.

Amsterdam Ein eher neutrales, etwas ausdrucksschwaches Produkt, das aber auf der Zunge unerwartet zu moussieren beginnt und dabei seinen unverwechselbaren, halb süßen, halb salzigen Ijsselmeer-Charakter erweist. Für den Alltag durchaus ausreichend, weckt dieses Wasser im Trinkenden nach einiger Zeit den Wunsch, wieder einmal richtiges Wasser zu trinken.

Zaragoza Ein äußerst gehaltvoller Tropfen, unverkennbar am Rande der Rioja-Gegend beheimatet, gewissermaßen der Rotwein unter den europäischen Leitungswassern, wobei die hohe Temperatur, mit der er serviert zu werden pflegt, seinen rauen, harzigen Ton hervorhebt, jedoch dem abgerundeten Charakter nicht unbedingt guttut. Nach längerem Genuss weckt dieses Wasser im Trinkenden mitunter den Wunsch, lieber gleich Wein zu trinken.

Warschau Der Aufsteiger des Jahres. Ein bodenständiges Wasser, angereichert mit der grandiosen Vielfalt industrieller Schwermetalle aus der gesamten heimischen Produktion, verfeinert durch zahllose Spurenelemente. Von ängstlich um ihre Gesundheit besorgten Nutzern oft nur zusammen mit Wodka getrunken, empfiehlt es sich sonst als idealer Begleiter von chronischen Krankheiten.    (Karl-Markus Gauß, Album, DER STANDARD, 16./17.2.2013)