In Serie produzierter Sessel "Remember me" aus alten Kleidern - von Tobias Juratzek für Casamania.

Foto: Juretzel/Casamania

Der Hinweis "Hergestellt aus 100 % Altmaterial" löst bei nicht wenigen Zeitgenossen durchaus ambivalente Reaktionen aus. Sicher, der Prozess des Recycling, zumal in hundertprozentiger Totalität durchgeführt, beruhigt erst einmal das Gewissen. Das eigene Verhalten, das nicht nur unter permanenter kollektiver, sondern, wie sich das für einen ökologisch korrekten Gutbürger gehört, auch unter individueller Dauerbeobachtung steht, ist nachhaltig erleichtert, wenn das konsumistische Verlangen durch diesen "amtlichen" Hinweis von jedem Anflug ökologischer Rücksichtslosigkeit befreit, ja bisweilen sogar in eine allgemein anerkannte gute Tat umgewidmet wird.

Empfindlich gepiesackt wird diese inzwischen längst zur variantenreichen Geschäftsidee praktizierte Kompensation nur mühsam disziplinierter Kaufgelüste indes durch das Wissen um die vermeintliche materielle Minderwertigkeit vieler mit solch einschlägigen Prädikaten versehener Produkte. Und die kommt nicht nur in der freudlosen Ästhetik vieler so hergestellter Waren zum Ausdruck. Vor allem sind es die aus dem "Vorleben" resultierenden Kontaminationen, die den rein substanziellen Wert des "neuen" Produkts negativ beeinflussen und dementsprechend nur eine Einstufung in mindere Güteklassen erlauben. Nicht von ungefähr spricht man deshalb längst vom Downcyclen, etwa dann, wenn zum Beispiel Kunststoffe unterschiedlichster Qualität zu Parkbänken, Bodenschwellen oder Schüttmaterialien verarbeitet werden oder wenn von Druckerschwärze durchtränkte Papiere als Zeitung oder postalische Hardware wieder in Umlauf gebracht werden.

Gewissenskonflikte

Kein Wunder also, dass der unverbrüchliche Glauben an die Segnungen des Recyclings längst einer traumatischen Erkenntnis um die nachhaltige Vergiftung ganzer Produktgattungen gewichen ist.

Mit solch mehr oder weniger stark ausgeprägten Gewissenskonflikten relativ wenig am Hut haben dagegen all diejenigen, die bewusst (und natürlich erst recht unbewusst) das Prinzip des sogenannten Readymades praktizieren - sei es nun beruflich, zum Beispiel als Künstler oder Designer, oder aber als pragmatische Manager profanster Alltagssituationen. Warum auch, genießt doch jeder, der ein Problem durch eine spontane oder analytisch kalkulierte Improvisation löst - und um eine solche handelt es sich ja letztendlich immer bei diesem Prinzip -, allergrößte Anerkennung.

Transparenz durch Readymades

Gewiss: Nicht jede Form einer kreativen Improvisation ist Ausdruck eines nonchalanten Umgangs mit den Herausforderungen eines an sich durchkonventionalisierten Alltags; aber selbst eine als eher kleingärtnerisch abgetane Einfriedung von Miniaturrasenflächen mittels Einwegflaschen wird allenfalls als schrullig oder folkloristisch abgetan - aber bestimmt löst sie keine Glaubenskriege aus wie das großindustriell betriebene Einschmelzen undefinierter Abfallhalden.

Hinzu kommt, dass das Readymade-Prinzip uns wesentlich transparenter erscheint. Denn im Gegensatz zum nicht identifizierbaren Brei recycelter Altwaren erkennt man hier sehr genau, was wie zu was umgewandelt wurde. Heißt: Hier muss eigentlich nichts erklärt werden, und schon gar nicht muss hier groß etwas angepriesen werden; hier erkennt man gleich das Woher und Woraus, hier weiß jeder, woran er ist.

Industriell versus individuell

Nun geht es hier nicht darum, das eine gegen das andere Prinzip aufzuwiegen. Und wenn hier der Eindruck entsteht, das Readymade sei dem Recycling in vieler Hinsicht überlegen, so lässt sich das sehr schnell korrigieren. Allein schon der Umstand, dass sich mit einer industriell betriebenen, gleichzeitig umfassend entgiftenden (!) Wiederaufbereitung großer Anteile unserer Müllproduktion und der damit verbundenen Umwandlung in wert-volle Rohstoffe ganze Produktgattungen ersetzen ließen, würde die Sympathiewerte sehr schnell in die andere Richtung verlagern, zumal das aus dem Readymade entstandene Provisorium nur einen sehr kleinen Kreis, meist nur einen einzigen Nutzer beglückt.

Kurzum, mit diesem Blick auf das Merkmal-Panorama der beiden etablierten Wiederverwertungsstrategien - hier das chemisch, industriell, kollektiv geprägte Recycling, dort das physisch, manuell praktizierte und individuell orientierte Readymade - soll ein Qualitätsfundus skizziert werden, auf den sich auch in den gestalterischen Disziplinen einige der markantesten zeitgenössischen Einlassungen zurückführen lassen. Und dass sie partiell tatsächlich superlative Prädikate erreichen, liegt vor allem daran, dass sie mit den oben dargelegten Schwächen derart souverän umgehen, dass sie als solche nicht mehr erkennbar sind.

Ausgangsmaterial erhalten

So wie in dem Projekt NewspaperWood, das die holländische Designerin Mieke Meijer gemeinsam mit dem Designstudio Vij5 2011 in Mailand vorstellte. In diesem Projekt werden unverkaufte Ausgaben von Zeitungen zu holzstammartigen Blöcken verklebt, die ihrerseits, genau wie "echte" Baumstämme, in unterschiedliche Brettformate zugeschnitten werden, um dann als Ausgangsmaterial für Einzelmöbel oder ganze Ausbauten weiterverarbeitet zu werden. Hier wird also nicht bloß "recycelt", indem ein vermeintliches Material - Zeitungspapier - in eine nicht mehr wiedererkennbare Substanz "eingekocht" wird, vielmehr wird das Ausgangsmaterial nahezu vollständig, ja man kann sagen demonstrativ erhalten. Das heißt, die tatsächlich einzigen Behandlungsschritte, nämlich das Zusammenkleben der großformatigen Zeitungsbögen, zeitigen in der Weiterverarbeitung, also der nachfolgenden "Brett"-Produktion, eine völlig neue und für nicht wenige qualitativ äußerst hochwertige Ästhetik.

Ganz ähnlich wie Meijer verfährt die junge Designerin Juli Foos aus Karlsruhe. Sie verarbeitet vornehmlich Verpackungsmaterialien. Und auch sie spart sich den Schritt der Rückführung der von ihr eingesammelten Plastik- und Papiertüten, der blauen Müllsäcke oder der Flaschenverschlüsse auf eine mehr oder weniger dem Ausgangsmaterial entsprechende neutrale Grundsubstanz. Stattdessen sortiert sie diesen Fundus nach Farben, Material und Größe und fertigt aus den so gewonnenen "sortenreinen" Halden Einzelmodule wie Papierknäuel oder Plastiksträhnen, aus denen sie wiederum Teppiche, Vorhänge oder Matten für innen und außen "knüpft", "webt" oder ganz einfach nur klebt.

Mit welchem Selbstverständnis und -bewusstsein sich Juli Foos zu diesem Design bekennt, kommt nicht zuletzt in den Namen der so gestalteten Produkte für Haus und Garten zum Ausdruck: Getreu der Quelle des "Unrats" folgend, nennt sie diese Kamps-Teppich, Badische-Backstube-Teppich, Kassenzettelteppich oder Tempoteppich. Und diese Namensprosa ist absolut ernst gemeint. Hier schwingt kein ironischer oder gar zynischer Unterton mit, wie das noch bei den die gesellschaftlichen Verhältnisse kommentierenden Kollegen aus den 1980er- und 1990er-Jahren gang und gäbe war. Nein, hier offenbart sich vielmehr ein durch und durch nüchtern-pragmatischer Blick auf die realen Verhältnisse. Und die sind nun einmal gekennzeichnet durch ein überbordendes Angebot an vermeintlich nicht mehr zu gebrauchenden Materialien.

Möbel aus Kühlschränken

Für die kreativen Jäger und Sammler unserer Tage indes ist dieser Auswurf mindestens genauso wertvoll wie die aus unterschiedlichsten Gründen in immer weitere Ferne rückenden Urstoffe Stahl, Holz, Glas, Sand, Leder, Wolle und dergleichen, also all die Materialien, die für Jahrzehnte, ja für Jahrhunderte die Ausgangsbasis für nahezu all unsere Konsum- und Gebrauchsgüter darstellten. Denn ein Regal lässt sich, folgt man Werner Aisslinger, nicht nur aus Holz oder Metall, sondern ebenso gut aus ausrangierten Coffee-Table-Books herstellen. Polystyrol-Becher lassen sich, wie uns Paul Cocksedge zeigt, zu höchst stabilen, aber gleichzeitig wunderbar transparenten Lampenschirmen umformen, und selbst für ein so anspruchsvolles Möbel wie den Stuhl entdeckt diese Generation ein vollkommen unbekanntes Material: Dirk vander Kooij schreddert ausgediente Eisschränke zu einer plastilinen Masse, aus der er von einem Roboter Stühle oder Tische spritzen lässt.

Zugegeben, das klingt zunächst einmal alles sehr exotisch. Aber keines dieser Projekte entlarvt sich bei noch so genauem Hinsehen als irgendwie willkürlich oder an den Haaren herbeigezogen. Im Gegenteil: Alle hier aufgeführten Beispiele sind präzise durchdacht; in allen Projekten nutzen die Designer ganz bestimmte, allerdings bislang eher übersehene oder zumindest nicht im Fokus stehende Material- und Produkteigenschaften, die sie in dem von ihnen entwickelten Kontext zur eigentlichen Basis ihres Entwurfs machen.

Stuhl aus alten Kleidern

Natürlich hat auch "der Markt" das Potenzial dieser avancierten Weiterentwicklung unserer althergebrachten Wiederverwertungsstrategien erkannt. Wie die italienische Manufaktur Casamania, die den Sessel "Remember me" des Kasseler Hochschulabsolventen Tobias Juretzek noch während der Premiere in Mailand 2011 in ihr Programm aufgenommen hat. Und dabei dürfte das von Juretzek verarbeitete Material eine nicht ganz untergeordnete Rolle gespielt haben. Der Stuhl besteht nämlich aus nichts anderem als aus Kleidern, allerdings nicht aus neuen, sondern - man höre und staune - aus abgelegten, also Altkleidern, die mittels einer Harzmischung und einer entsprechenden Pressform unter Hochdruck in Stuhlform gebracht werden. Die alte Wäsche, die Hosen, Hemden, die Blusen und T-Shirts, von denen man sich partout nicht trennen will, transportiert hier doch jedes Loch, jeder nicht zu reinigende Rotweinfleck ein Kaleidoskop persönlichster Erinnerungen, wird so tatsächlich zum individuellen Einrichtungsstück, "handmade mass customization" sozusagen.

Nicht jeder so gepolte Designer mag sich jedoch auf dieses klassische Geschäftsmodell - hier Designer, dort Produzent - verlassen und entwickelt stattdessen zu den alternativen Entwurfs- und Herstellungswegen auch gleich das passende Geschäftsmodell. So wie der Holländer Piet Hein Eek. Eek verarbeitet Altholz. Und zwar mit Vorliebe solches, dem das Vorleben als lackiertes Brett deutlich anzusehen ist. Diese Hölzer werden gereinigt, entnagelt, präzise formatiert und zu neuen Möbeln zusammengebaut. Fertig.

Dieses Modell ist inzwischen allerdings so erfolgreich, dass er das schon lange nicht mehr allein machen kann, sondern insgesamt neunzig Mitarbeiter beschäftigen muss. Nischen stellt man sich dann doch eher kleiner vor. (Volker Abus, Rondo, DER STANDARD, 8.3.2013)