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Symbolbild: Kairoer Straßenkinder am Tahrir-Platz.

Foto: REUTERS/Steve Crisp

Es war eine kurze Meldung in "Al-Masry al-Youm" im Februar: Da war eine Gruppe von fünf Menschen zu einer Gefängnis- und Geldstrafe verurteilt worden, weil sie Straßenkindern in Kairo für eine Mahlzeit und ein paar Groschen Blut abgezapft und dieses am offenbar regen Schwarzmarkt weiterverkauft hatten. Meine Empörung - und die Reaktion eines ägyptischen Freundes darauf: Wenn diesen Kindern sonst nichts passiert, dann gehören sie zu den wirklich glücklichen unter ihresgleichen.

Solchermaßen eingestimmt, stießen ein paar Artikel der Autorin Nelly Ali bei mir auf mehr Aufmerksamkeit: Sie ist eine Dissertantin am Birbeck College der London University und das genaue Gegenteil einer distanzierten Wissenschafterin. Ihre Arbeit über die Straßenkinder in Kairo mündet in bittere Anklagen der ägyptischen Gesellschaft. Zur Diskussion über die immer aggressiver werdende sexuelle Gewalt gegen Frauen auf den Straßen Kairos schreibt sie: Was den Frauen der revolutionären Klasse jetzt passiert, ist nur die Vorstufe dessen, was den Mädchen und Buben auf den Straßen passiert. Mit Massenvergewaltigung fängt es bei ihnen erst an. Aber darüber spricht niemand, denn die Straßenkinder sind nichts, niemand.

In einem anderen Artikel erzählt Nelly Ali die Geschichte von Maya, die mit sieben der Gewalt in ihrem Elternhaus entflieht. Nach vier Tagen auf der Straße wird sie von vier Männern in den 30ern vergewaltigt. Mit 13 geht sie ins Gefängnis, dann heiratet sie einen Mann, der sie ihre gewalttätige "Stiefmutter vermissen und die Schläge des Vaters im Nachhinein wie Kitzeln aussehen lässt". Und Nelly Ali erzählt auch, wie diese Maya später ihre eigene einjährige Tochter Samar quer durchs Zimmer schmeißt.

Fragwürdige "Rettung"

Wie Hohn klingt dann eine Meldung der ägyptischen Nachrichtenagentur, ebenfalls vom Februar, über eine Aktion der Polizei zur "Rettung der Straßenkinder". Ein paar hundert wurden "gerettet" und zu ihren Eltern zurückgebracht - von wo ja viele geflohen waren, um sich zu retten. Die verbotenen Aktivitäten werden aufgezählt, denen sich diese Kinder hingegeben hatten: betteln, Zigarettenkippen sammeln, als Straßenverkäufer arbeiten (das sind die Gutgestellten unter den Kindern). Diese Kinder seien, wenn sie auf der Straße schlafen, "verwundbar", meldet die Agentur. Bei Nelly Ali liest sich das so, dass es kaum ein Kind gibt, das nicht vergewaltigt wird. Diese Kinder werden dann auch noch markiert: mit einer Messerwunde im Gesicht. So kann der nächste Interessent feststellen, dass es sich nicht um ein unberührtes Kind handelt. Bei jeder weiteren Vergewaltigung gibt es ein weiteres Messerzeichen am Körper. Dies ist sozusagen als Service angesichts der Aidsgefahr gemeint. Zu Alis Arbeit gehört, in Kairo großzügige plastische Chirurgen zu finden, die die Gesichtsnarben operieren.

Wie viele Kinder auf Kairos Straßen leben, hunderttausende oder zehntausende, ist nicht erhoben, aber auch Frage der Definition: Wenn ein Kind hin und wieder doch noch bei seiner Familie unterkriecht, ist es dann überhaupt ein Straßenkind? Die libanesische Journalistin Octavia Nasr schreibt von ihrer Begegnung mit der neunjährigen Rajaa (dieser Name ist, wie alle anderen auch, geändert), die sie einen Tag lang in Kairo begleitet: Dieses Mädchen behauptet, am Vormittag in die Schule zu gehen und nur am Nachmittag zu betteln. Sie habe eine wundervolle, aber kranke Mutter. Fantasie oder Wirklichkeit? Sie träumt davon, mit dem erbettelten Geld ein Spielzeug zu kaufen, mit dem Erlös zwei und so weiter. Und sie will Journalistin oder vielleicht doch lieber Kinderärztin werden. Octavia Nasr beschreibt dieses Kind - das ihr so sehr misstraut, dass sie kein Essen von ihr annimmt, nur Geld - als einen Lichtblick während ihres Aufenthalts in Kairo. "Rajaa wird vielleicht eines Tages Richterin, Ärztin oder ägyptische Präsidentin", schreibt sie.

Mit neun vergewaltigt

Vielleicht ist sie jedoch auch mit elf schwanger oder wird mit zwölf weggeworfen wie Müll. Hazel Haddon schreibt in "Ahram Online" über ein Frauenhaus der NGO "Hope Village Society" in Mokattam im Südosten Kairos für minderjährige Mädchen zwischen zehn und 18: Keines davon hat keine sexuelle Gewalt erlebt, die meisten waren schwanger. Ihr wird von einer Neunjährigen erzählt, die von zehn Straßenbuben vergewaltigt wurde. Manchmal werden die Mädchen auch verschleppt und wochenlang gefangen gehalten: "Ein Mädchen wurde zwei Monate festgehalten und kam schwanger wieder zurück. Und sie sagt zu mir, jedes Mal, wenn ich meine Tochter anschaue, werde ich daran erinnert", erzählt die Psychologin Shaimaa Abdel-Kader.

Wenn sich nicht Freiwillige und NGOs um die Kinder kümmern würden, wüsste man diese Dinge nicht einmal. Die Polizei ist zumindest nicht die allergrößte Gefahr für die Kinder, heißt es, obwohl auch Polizisten zu den Vergewaltigern gehören. Aber es gibt auch "gute", die auf die Kinder in ihrem Bereich etwas aufpassen. Nicht nur die Armut sei es, berichten Streetworker, die meisten dieser Kinder kämen aus sozial zerrütteten Verhältnissen, oft sind Drogen im Spiel. Ein Problem ist, dass Schutzeinrichtungen Kinder eigentlich nicht aufnehmen dürfen, wenn es nicht die Unterschrift des Vaters dafür gibt - vor dem viele der Kinder aber davongelaufen sind.

Sündenböcke nach der Revolution

Ein weiteres Unrecht geschieht diesen Kindern, wenn sie von der neuen Obrigkeit zu Sündenböcken für die Unruhen und die Unsicherheit gestempelt werden, die Ägypten seit der Revolution heimsuchen. Im November 2011 ließ der ägyptische Militärrat, der nach dem Sturz Hosni Mubaraks die Macht übernahm (und später von den gewählten Muslimbrüdern abgelöst wurde) Kinder im Fernsehen vorführen, die gestanden, dass sie dafür bezahlt worden waren (mit Geld und Essen), an gewaltsamen Protesten teilzunehmen.

Das sind also die berühmten Gangster, die vom gestürzten Regime engagiert werden. Solche Fälle wird es gegeben haben - offenbar besonders, was Demonstrationen vor ausländischen Botschaften betrifft. Aber dass die schiefgegangene Übergangszeit nach der Revolution "bezahlten" Kindern angelastet wird, ist natürlich mehr als absurd. Der hochgeachtete Justizminister Ahmed Mekki sagte im Februar, dass diese Straßenkinder "für alle Rückschläge verantwortlich sind". Sie seien eine Gefahr für die Gesellschaft - nicht das Symptom der Krankheit der Gesellschaft.

Für die Straßenkinder war die Revolution noch etwas ganz anderes als für ihre bürgerlichen Kompatrioten gleich welchen Alters. Für sie wurde "die Straße" durch die Revolution aufgewertet, erklärt Abdel-Kader. Viele machten aus einem neuen Gefühl der Selbstachtung bei den Demonstrationen und den Zusammenstößen mit: Ohne Straße war die Revolution doch nichts! Plötzlich waren sie Teil eines ganz anderen Ganzen - und die Menschen am Tahrir-Platz waren freundlich zu ihnen. "Sie hatten das Gefühl, dass diese Menschen ihre Gäste waren - denn die Straße gehört doch ihnen." Aber die Freundlichkeit hielt nicht an. (Gudrun Harrer, derStandard.at, 28.3.2013)