Hannu Rajaniemi: "Fraktal"
Klappenbroschur, 400 Seiten, € 17,50, Piper 2013 (Original: "The Fractal Prince", 2012)
Mein absoluter Lieblingssatz aus all den vielen Rezensionen zu Hannu Rajaniemis "The Fractal Prince" stammt von Gary K. Wolfe in der SF-Zeitschrift "Locus": hardly any sentence consists only of words you already know. Alle, wirklich alle RezensentInnen haben sich bemüht, die Mischung aus Ehrfurcht, Entzücken und Hilflosigkeit, die ihnen Rajaniemi bereitete, in treffende Worte zu kleiden - aber der Satz brachte es in seiner Schlichtheit für mich am besten auf den Punkt. Und allen, denen schon beim Vorgängerband "Quantum" der Kopf geraucht hat, sei gesagt: "Fraktal" packt nochmal ordentlich was drauf.
Virtuelle und doch sehr reale Machtblöcke
Fangen wir an beim Setting - einem der transhumansten, die es in der Science Fiction bislang gegeben hat. Wir befinden uns vermutlich einige tausend (gefühlsmäßig: Millionen) Jahre in der Zukunft, erfahren in "Fraktal" nun aber, dass diese Ära der virtuellen Unsterblichkeit in einer Zeit wurzelt, die uns gar nicht mehr so fern ist. Inklusive der Vita der ProtagonistInnen - ein paar davon könnten wir zu unseren Lebzeiten noch begegnen. Vielleicht sogar der Hauptfigur, dem Meisterdieb Jean le Flambeur.
Der größte Teil der Bevölkerung des Sonnensystems führt eine virtuelle Existenz, Körperlichkeit gilt den tonangebenden Mächten als Relikt. Dazu gehört allen voran der Sobornost, ein streng hierarchisches Kollektiv, das unzählige Virtuelle Realitäten bewohnt, aber auch massiv in die reale Welt eingreift. Unter anderem werden dafür planetengroße Rechner, die Gubernjas, betrieben. Der wichtigste Kontrahent des Sobornost sind die Zokus, dereinst aus MMORPGs hervorgegangen: Kleinere Kollektive, die auf Abenteuer aus sind und ein egalitäres Gesellschaftsbild hegen. Auf sie ging Rajaniemi im Vorgängerband "Quantum" näher ein - diesmal dringen wir tiefer in die Aktivitäten des Sobornost vor. Der plant nicht nur, den Tod zu besiegen und alle Menschen, die jemals gelebt haben, virtuell für die Ewigkeit zu rekonstruieren. Anscheinend will er sogar ein neues Universum mit festen Regeln schaffen, in dem der Zufall keine Rolle mehr spielt: die Ausrottung des Quantendrecks. Talkin' 'bout ehrgeizig.
Die Erde ist nicht wiederzuerkennen
Wie schon im letzten Band richtet sich Rajaniemis Fokus aber auf eine der wenigen ökologischen Nischen, in denen das intelligente Leben noch körperlich ist, zumindest wahlweise. In "Quantum" war dies die rollende Mars-Stadt Oubliette. Nun ist es Sirr, die letzte menschliche Stadt auf Erden, angesiedelt zwischen den gigantischen Fragmenten eines abgestürzten Weltraumhabitats. Rund um Sirr ist die Erde fest in der Hand des Chaoscode, Amok gelaufener Software, die via Nanomaschinchen jedes Material befällt und verändert. Überhaupt sind nach dem mythischen Großen Zusammenbruch in ferner Vergangenheit Bio- und Infosphäre derart miteinander verschmolzen, dass jede Unterscheidung zwischen Hard-, Soft- und Wetware im Grunde hinfällig wird.
In Sirr betreibt man eine ziemlich makabre Form des Datamining: Man gräbt Gogols - Rajaniemis Terminus für digitalisierte Bewusstseinskopien - aus, die einst in sogenannten Versicherungshimmeln vergraben wurden, einfacher ausgedrückt: in geschützten Bunkern. Dort sollten sie in paradiesischen Virtualitäten jede Katastrophe überdauern, werden nun aber ausgebuddelt, nach Belieben kopiert und als Arbeitssklaven weiterverkauft. Auch der Sobornost beteiligt sich an diesem Geschäft, und als eine seiner wichtigsten Kontaktpersonen in Sirr ermordet wird, stehen wir wie schon in "Quantum" - und erneut nahezu vollständig verdeckt durch Rajaniemis bizarr-barocke Ausschweifungen in Sachen Technophilie - vor einer Krimihandlung.
Die ProtagonistInnen
Kriminell geht's natürlich sowieso überall dort zu, wo sich Jean le Flambeur herumtreibt. Sein Talent als Meister der Masken, das im Roman für so manchen Twist sorgen wird, ist diesmal bei der Erbeutung zweier Schlüsselobjekte gefragt: Eines davon steht in Zusammenhang mit der einstigen Zerstörung des Jupiter und wahrt sein Geheimnis im Grunde über den Roman hinaus. Das andere ist ein Versicherungshimmel mit einer kindlichen Bewusstseinsvariante eines Sobornost-Gründers. Der Roman springt im Reißverschlusssystem zwischen der Handlung in Sirr und Jeans Weg zur Erde hin und her. Wie der Autor die beiden Ebenen schließlich verknüpft, ist übrigens ziemlich genial, weil überraschend.
Hier klingen aber auch die zwei kleineren Makel an, die der Roman für mich hat. Er ist erstens nicht so stark in sich abgeschlossen wie "Quantum" und weist - es soll ja eine Trilogie werden - einige Symptome des Middle Book Syndrome auf. Zum anderen zerrinnt einem Jean le Flambeur hier ein bisschen zwischen den Fingern. Im ersten Band ging es noch nur darum, dass Jean die Erinnerungen an sein früheres Selbst verwehrt blieben. Diesmal ist er durch sein ständiges Auftauchen in immer neuen überraschenden Rollen eher defragmentiertes Datenpaket als Person - was es schwierig macht, sich auf ihn als Figur einzulassen.
Da springen zum Glück zwei "menschlichere" Figuren ein: Mieli, die Kriegerin aus der Oortschen Wolke, die Jean seit Band 1 nolens volens durchs Sonnensystem kutschiert. Und, neu dazugekommen, Tawaddud Gomelez, eine höhere Tochter aus Sirr, die sich um Chaoscode-Patienten kümmert und in politische Intrigen gerät. Zu beiden werden uns sehr persönliche Einblicke gewährt, was sie zu Figuren macht, für die man sich erwärmen kann.
Der Roman als Konstruktion
Soviel zur Handlung ... obwohl bei einem Rajaniemi-Roman eine Inhaltsbeschreibung ungefähr gleich viel Sinn macht wie den "Herrn der Ringe" als Wirtschaftsnachricht "Rückrufaktion eines Schmuckproduzenten scheitert durch Vandalenakt" zusammenzufassen. "Fraktal" wird seinem Titel gerecht, weil wir uns immer weiter in ein unfassbar komplexes Bild einzoomen. Rajaniemi zollt mit seinem Roman ausdrücklich den Erzählungen aus "Tausendundeiner Nacht" Tribut. An der Oberfläche scheint dies am "orientalischen" Setting von Sirr zu liegen, wo dienstbare Gogols als Dschinns bezeichnet werden und es sogar fliegende Teppiche (aus Utility Fog) gibt. Aber das ist nur die Wahl der Kulisse.
Näher am Kern liegt da schon der Umstand, dass Worte - Geheime Namen und Wahre Geschichten - in dieser Welt Macht haben. Die Terminologie mag märchenhaft klingen, aber Worte sind letztlich nur ein anderer Ausdruck für Code, und der steuert eben die gesamte Realität. Wirklich entscheidend aber ist der Einfluss, den "Tausendundeine Nacht" auf die Struktur des Romans selbst hatte: Alles ist in einen großen erzählerischen Rahmen eingebettet. Und im Fluss dieser Erzählung treiben Blasen, die in ihrem Inneren weitere Flüsse und Blasen tragen, Schicht um Schicht um Schicht. Geschichten in Geschichten, Virtualitäten in Virtualitäten, Masken hinter Masken.
Ach ja, und natürlich schwimmt in diesem Fluss auch jede Menge Treibholz, an dem man sich den Kopf stößt. Soll heißen: Rajaniemis gnadenlos auf Erklärungen verzichtendes Wording, das sich eifrig bei der Theoretischen Physik - Rajaniemis eigentlichem Berufsgebiet - bedient. Und dazu noch vor Neologismen in einem selten dagewesenen Ausmaß strotzt. Die Q-Blase hat Mühe, das Sperrfeuer abzuwehren, das über das ganze elektromagnetische Spektrum geht, und schaltet um auf Neutrino-Tomografie. Basalt und Lava werden durchsichtig wie Glas, sichtbar bleibt nur die Wahnsinnsspirale um das Bekenstein-Epizentrum, wo die Gottesgedanken das Gewebe der Raumzeit durchstoßen haben. Wer mag zur Tafel kommen und das den anderen erklären - vielleicht DU?
Hilfe zur Selbsthilfe
Womit wir wieder bei den eingangs erwähnten Rezensionen angekommen wären. Liest man sich die so durch, gewinnt man den Eindruck, an einem Selbsthilfe-Treffen der Anonymen Ahnungslosen teilzunehmen. Jeder erzählt von seiner persönlichen Strategie, mit dem Unfassbaren umzugehen. Hier ist meine: Da, wo "Fraktal" wirklich schwierig wird, habe ich es einfach so gelesen, wie ich einen Text in einer zwar nicht beherrschten, aber sehr nahe mit einer, die ich beherrsche, verwandten Sprache lese; z.B. Dänisch. Dann genießt man den Flow und kriegt den Inhalt auch weitestgehend mit - das Feeling zählt! -, auch wenn einem Details entgehen mögen. Aber wenn du erst einmal anfängst, jede unbekannte Vokabel nachzuschlagen, legst du das Wörterbuch gar nicht mehr aus der Hand.
Apropos Wörterbuch: Die Wikipedia hat ein Rajaniemi-Glossar wieder rausgeschmissen, weil nicht von allgemeinem Interesse und bla. Großes Heulen und Zähneklappern unter den Fans war die Folge. Aber verzaget nicht: Rajaniemis Zukunft hat längst begonnen und postmortale Kopien geistern auch heute schon durchs Netz - zum Beispiel hier. Mit diesem Rüstzeug kann sich der wackere Leser an "Fraktal" heranwagen und wird dafür mit einer berauschenden Geschichte belohnt, die er so schnell nicht wieder vergessen wird. Wahrscheinlich auch nicht zur Gänze verstehen, aber ganz sicher nicht vergessen. Empfehlung!