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Heidi Kastner plädiert für einen entemotionalisierten und rationalen Umgang mit Sexualstraftätern.

Foto: APA/HELMUT FOHRINGER

Nach der Debatte über die Fußfessel für Sexualstraftäter folgt nun eine Anhebung des Strafmaßes bei Sexualdelikten. derStandard.at sprach mit Gerichtsgutachterin und Psychiaterin Heidi Kastner über die Sinnhaftigkeit derartiger Maßnahmen und die Gefahr der öffentlichen Stigmatisierung von Tätern. 

derStandard.at: SPÖ und ÖVP haben sich auf eine Verschärfung des Strafmaßes bei Sexualdelikten geeinigt, die deutlich höhere Mindeststrafen vorsieht. Wirken solche Maßnahmen abschreckend, oder bringt das letztlich gar nichts?

Kastner: Hohe Strafen besitzen erfahrungsgemäß nur wenig abschreckende Wirkung. Das weiß man aus den USA und den Erfahrungen mit der Todesstrafe. In Bundesstaaten, wo die Todesstrafe verhängt wird, ist die Mordrate nicht geringer. Das hat mit der Grundannahme eines Täters zu tun, der natürlich davon ausgeht, nicht gefasst zu werden. Was die Delinquenz betrifft, wirken hohe Strafen also nicht präventiv.

Der Ruf nach hohen Strafen kommt natürlich von den Nichttätern, wobei Strafgesetz und festgeschriebener Strafrahmen immer Ausdruck einer gesellschaftspolitischen Haltung sind. Wenn sich eine Gesellschaft durch ein Delikt besonders bedroht fühlt, hat das auch eine entsprechende Strafandrohung zur Folge. So gesehen ist die Erhöhung des Strafausmaßes Ausdruck einer gesellschaftspolitischen Veränderung, die wir in den vergangenen Jahren erlebt haben, wonach Sexualdelikte zu den verpöntesten Delikten überhaupt zählen.

derStandard.at: Reagiert die Politik hier mit inadäquaten Mitteln auf den Ruf von Boulevardmedien und der Bevölkerung?

Kastner: Natürlich machen Boulevardmedien Stimmung. Aber es ist eine Haltung, die sich generell relativ breitgemacht hat. Insofern greifen Boulevardmedien auch Stimmungen auf, die bereits da sind, und schlagen daraus Kapital. Wenn man jetzt sagt, die Politik betreibt hier Anlassgesetzgebung auf Zuruf von nicht gerade im hohen journalistischen Bereich angesiedelten Printmedien, dann greift das zu kurz. Denn die Strafgesetzgebung ist immer auch ein Spiegel der gesellschaftlichen Einstellung - und die hat sich verändert.

derStandard.at: Die Berichterstattung über Sexualstraftäter erweckt den Eindruck, dass es sich um reine Triebtäter handelt, die wie ein Dampfdruckkessel permanent unter zu hohem Sexualdruck stehen.

Kastner: Das ist natürlich ein Blödsinn - wie vieles, was man allgemein über diese Tätergruppe glaubt. Natürlich will ein Vergewaltiger auch Sex, aber primär will er Dominanz erleben und ausüben. Vergewaltigungsdelikte sind vom Antrieb her in erster Linie Machtdelikte. Wenn es mir nur um Sex geht, kann ich auch in ein Bordell gehen.

Außerdem ist es nicht so, dass jeder, der einmal ein Sexualdelikt begangen hat, andauernd wie ein Beutetier durch die Gegend streift und sich das nächste Opfer aussucht. Das sind meistens isolierte Delikte, zumindest bei den bekannten Fällen. Zudem wird nicht jeder Missbrauchstäter automatisch rückfällig. Die offiziellen Zahlen weisen auf eine Rückfallquote von 15 Prozent hin.

derStandard.at: Welche Trugschlüsse existieren noch im Zusammenhang mit Sexualstraftätern?

Kastner: Nicht jeder, der missbraucht, ist auch pädophil, und nicht jeder, der pädophil ist, begeht auch einen Missbrauch. Pädophilie ist eine sexuelle Orientierung, die man ausleben kann oder auch nicht. Aber pädophil zu sein heißt nicht automatisch zu missbrauchen. Ein weiterer Irrtum ist, dass Pädophilie sowieso nicht behandelt werden kann und deshalb alle Täter für immer weggesperrt werden sollten. Die Neigung kann natürlich so wenig wegtherapiert werden wie eine hetero- oder homosexuelle Neigung. Letzteres zu therapieren hat man Gott sei Dank irgendwann aufgegeben, weil sich die gesellschaftliche Einstellung gegenüber Homosexualität vermehrt in Toleranz gewandelt hat. Aber solange das verpönt war, wurde natürlich auch gestraft und therapiert.

Wenn man Ihnen jetzt erklärt, ab sofort ist heterosexuelles Verhalten verboten, und es werden alle behandelt, dann wird das nicht funktionieren. Bei Pädophilen ist das ähnlich - was man sich allerdings aussuchen kann, ist, ob man diese Neigung auslebt.

derStandard.at: Wie ist das konkret zu verstehen?

Kastner: Ich kann mir aussuchen, ob ich mit mir selber zugange bin und keinen Zweiten in mein sexuelles Verhalten involviere. Das ist die Entscheidung, die jeder treffen kann, und deshalb gibt es auch Pädophile, die ihre Neigung nicht ausleben.

derStandard.at: Kann eine Gesellschaft Maßnahmen ergreifen, um Sexualdelikten vorzubeugen?

Kastner: Ich glaube nicht, dass derzeit, wo die Sensibilisierung schon sehr hoch ist, noch weitere geeignete Maßnahmen gesetzt werden können, weil das momentan die Dimension einer Hexenjagd erreicht hat, in der Differenziertheit kaum mehr möglich ist. Diejenigen, die differenziert denken wollen, können das aufgrund der vorhandenen Information jetzt schon tun.

Jene, die an ihren kurzschlüssigen und einfältigen Meinungen festhalten wollen, werden auch jedes Informationsangebot nicht nützen, denn sie wollen gar keine Information, sondern Erregung. Das ist keine Erregung sexueller Natur, aber eben auch eine Form von Erregung. Es gibt auch nichts Schöneres, als sich rechtschaffen zu erregen. Da demonstriert man zum einen, dass man ein guter Mensch ist, und zum anderen hat man jemanden, der unter einem steht - das ist auch immer ein angenehmes Gefühl. Das macht einen selbst größer, noch dazu in hoher Rechtschaffenheit.

derStandard.at: Wäre da nicht die Politik gefordert, Fakten auf den Tisch zu legen und die genannten Trugschlüsse richtigzustellen?

Kastner: Das wird nicht funktionieren, denn in einer emotional geführten Debatte können Sie mit faktischen Argumenten kaum punkten. Deshalb kann man nur darauf hoffen, dass das nächste Erregungsthema kommt und damit die Problematik des sexuellen Missbrauchs wieder für vernünftige Überlegungen zugänglich wird.

derStandard.at: Ein höheres Strafmaß kann aber nicht der Weisheit letzter Schluss sein.

Kastner: Eine vernünftige Position wäre zu sagen, dass wir mit einem gewissen Ausmaß an Delinquenz leben müssen. Wir wissen seit Kain und Abel: Wo Leute zusammenkommen, gibt es ein gewisses Ausmaß an Delinquenz. Das ist natürlich nicht erfreulich, und das ist auch nichts, worüber man sich freut. Aber faktisch anzuerkennen, dass wir selbst mit noch so vielen Mitteln nicht jede Form von Straffälligkeit ausrotten können, wäre ein vernünftiger Zugang zu dem Thema. Jeder, der missbraucht, tut das irgendwann zum ersten Mal, und das zumeist im Rahmen der Familie. Daran wird eine Strafgesetzgebung nichts ändern können.

derStandard.at: Sind die meisten Sexualstraftäter selbst einmal Opfer gewesen?

Kastner: Nein, das ist ein Mythos. Mittlerweile geht man von einer Rate um die 13 Prozent vormaliger Opfer aus, die dann zu Tätern werden. Zudem ist die Mehrzahl der Opfer weiblich, aber Täterinnen stellen nur eine Minderheit dar. Wir haben es vielmehr mit einer Deliktgruppe zu tun, bei der die Mehrzahl der Opfer weiblich ist, und einer Tätergruppe, von denen die meisten männlich sind. Die erlebte Opferrolle fördert zwar bei manchen Menschen den Umstieg auf das Täterverhalten, aber sie ist nicht die generelle Grundlage für Missbrauchsdelinquenz.

derStandard.at: Gibt es überhaupt Faktoren, die eindeutig Missbrauchsdelinquenz fördern?

Kastner: Der Großteil der Täter sind Leute, die ein massives Problem mit ihrem Selbstwert haben, die sich permanent gedrängt, ungerecht behandelt, nicht wirklich in ihrer gesamten Bedeutsamkeit wahrgenommen und missachtet fühlen. Über das Erleben von Dominanz polieren sie ihren Selbstwert wieder auf. Das Gros der Sexualstraftäter ist im Leben einfach zu kurz gekommen und hegt deshalb eine innerliche Gekränktheit, die ein Ventil im Missbrauch findet.

derStandard.at: Provokant gesagt sind sie also doch Opfer ihrer Lebensumstände?

Kastner: Natürlich sind fast alle Täter auch Opfer von widrigen Bedingungen. Es gibt sehr wenige, die in idealen Verhältnissen aufgewachsen sind, aber es gibt auch genügend Opfer, die nicht zum Täter werden. Die finden andere Möglichkeiten, mit ihren Problemen umzugehen, weil sie eben nicht der Meinung sind, dass ihre Befindlichkeit das einzig Wichtige auf der Welt ist.

derStandard.at: Wie sollte eine Gesellschaft also mit Sexualstraftätern umgehen?

Kastner: Da wir ein Rechtssystem haben, das die Todesstrafe nicht kennt, müssen wir damit leben, dass Täter wieder in diese Gesellschaft entlassen werden. Wenn man das nicht will, muss man sie umbringen. Ich bin ein erklärter Gegner der Todesstrafe, die ich für eine Anmaßung halte, die keinem Menschen über einen anderen zusteht.

Je nachdem, wie wir uns den Tätern gegenüber verhalten, beeinflusst das allerdings deren Verhalten und die Prognose. Wenn wir die Rückfälligkeit dieser Menschen fördern wollen, sind Ausgrenzung, Diffamierung und An-den-Pranger-Stellen zielführend. In diesem Fall soll aber keiner mehr sagen: "Ich will ja nur rechtsschaffen agieren und die armen Kinder schützen", denn damit bewirke ich genau das Gegenteil. Wenn ich Frauen und Kinder wirklich schützen will, lasse ich diese Blödheiten bleiben. (Günther Brandstetter, derStandard.at, 6.5.2013)