"Wann immer es in Syrien regnet, müssen die Libanesen die Regenschirme aufspannen", besagt ein bekanntes libanesisches Sprichwort. Angesichts der Flüchtlingskrise gehen Wael Abou Faour die Regenschirme aus. Der libanesische Sozialminister und Spitzenfunktionär der drusischen Progressiven Sozialistischen Partei (PSD) von Walid Jumblatt hat mit einem nie da gewesenen Flüchtlingsstrom in seinem Land zu kämpfen. "Die Situation ist alarmierend", sagt der Politiker bei einem Pressegespräch in Beirut zu derStandard.at.

Mehr als 400.000 Flüchtlinge haben sich beim UNHCR, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, im Libanon bisher registriert. Hinzu kommen tausende Palästinenser, die aus Syrien geflohen sind und weder vom Libanon als Flüchtlinge anerkannt werden noch vom UNHCR Hilfe bekommen. Hunderttausende leben und arbeiten seit Jahren im Libanon, insgesamt befinden sich mehr als eine Million Syrer in dem Viereinhalb-Millionen-Einwohner-Land.

Wael Abou Faour: "Früher oder später wird es Flüchtlingscamps im Libanon geben."
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Vertreibung mit System

Dass Abou Faour weder ein Freund der Hisbollah noch Assads ist, daran lässt der Druse keinen Zweifel. Immer unter Betonung, dass es sich dabei um seine Privatmeinung handelt. Seiner Ansicht nach hat die Vertreibung in Syrien System. "Assad versucht, die Gebiete nahe der Grenze zum Libanon zu leeren. Von Latakia bis Damaskus bis nach Daraa im Süden vertreibt er Menschen. Das ist sein Plan B. Er weiß, dass er ganz Syrien nicht verteidigen kann, deswegen will er die Region um Latakia und das alawitische Gebirge mit Homs in Beschlag nehmen. Also vertreibt er alle Sunniten in den Städten nahe der Grenze. Das findet gerade jetzt statt. Deswegen nehmen wir an, dass noch mehr Flüchtlinge über die Grenze kommen."

Angst vor dem, was nach einem Sturz Assads kommt, hat Abou Faour nicht. "Was auch immer die Folge ist, ist besser als Bashar – für die Syrer wie auch für die Libanesen." Früher oder später werde Assad stürzen. Das Wann hänge nur von der Position der internationalen Gemeinschaft ab. Auch über das Wie hat er sehr konkrete Vorstellungen: "Die Syrer brauchen Waffen, um die Situation zu verändern."

Keine Flüchtlingslager

Anders als im Irak, der Türkei und Jordanien gibt es im Libanon keine Flüchtlingslager. Das Wort Camp hat im Libanon politische Sprengkraft, leben doch tausende Palästinenser seit Jahrzehnten in heruntergekommen Lagern – ein Nährboden für Probleme und Extremisten. Kamen die ersten syrischen Flüchtlinge vor einem Jahr noch bei Verwandten unter, ist mittlerweile die Situation vor allem im Norden des Libanon dramatisch. Kein Haus, keine Garage und keine noch so heruntergekommene Unterkunftsmöglichkeit ist unbewohnt.

"Jene Gruppen im Libanon, die das syrische Regime unterstützen, glaubten, dass sie Assad helfen, indem sie keine Flüchtlingscamps zulassen. Doch bei dieser enormen Zahl an Flüchtlingen überdenken viele mittlerweile ihre Position", sagt der Sozialminister. "Früher oder später", zeigt sich Abou Faour überzeugt, "wird es Flüchtlingscamps im Libanon geben. Dazu braucht es eine Entscheidung des Kabinetts." Doch ausgerechnet das gibt es mittlerweile genau genommen nicht mehr im Libanon. Nach dem Rücktritt des sunnitischen Ministerpräsidenten Najib Mikati im März ist auch Abou Faour nur mehr Interims-Sozialminister, bis eine neue Regierung ernannt ist. Trotzdem dürfte er vermutlich einer neuen Regierung angehören. Denn ohne die im Libanon einflussreichen Drusen dürfte eine Regierungsbildung nicht zustande kommen.

"Praktisch sind alle politischen und militärischen Parteien hier in der einen oder anderen Weise in Syrien involviert."
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Hisbollah im Bürgerkrieg und auf der Regierungsbank

Der Strom an vorwiegend sunnitischen Syrern könnte das fragile konfessionelle Gerüst des Libanon gefährden. "Hier im Libanon sind wir gespalten in jene, die die Revolution in Syrien unterstützen, und jene, die das Assad-Regime unterstützen. Sogar in der Regierung gibt es dazu unterschiedliche Ansichten", sagt Abou Faour. Daher ist die gegenwärtige offizielle Position des Libanon zum Bürgerkrieg im Nachbarland eine neutrale.

"Theoretisch", wie der Minister betont. "Praktisch sind alle politischen und militärischen Parteien hier in der einen oder anderen Weise in Syrien involviert." Nicht zuletzt die schiitische Hisbollah, die mittlerweile in Syrien offen an der Seite der Assad-Truppen kämpft. Zuletzt musste sie hohe Verluste in der Stadt Al-Kuseir in Kauf nehmen. Gleichzeitig sitzen Hisbollah-Minister mit Abou Faour auf der libanesischen Regierungsbank. (Stefan Binder, derStandard.at, 23.5.2013)