"Es fehlt uns die Erfahrung, dass das Nähebedürfnis auch in Gruppen eingelöst werden kann, die nicht familiärer Natur sind": Die Familiensoziologin Christine Goldberg.

Foto: privat

Ein windiger Montagnachmittag Ende Mai. Über Penzing, wo Wien gemächlich an den Wienerwald heranschleicht, hängt gelassene Betriebsamkeit. Ihr Haus sei nicht zu übersehen, hat Christine Goldberg angekündigt - und tatsächlich sticht der leuchtend orange, schrägkantige Bau zwischen den blassen Fassaden der Umgebung sofort ins Auge. Im weiten und sonnigen Innenhof umfängt einen augenblicklich das Gefühl, dass hier besondere Menschen leben. Die Wohnanlage ist eine Dependance der nahen "Sargfabrik", auch sie ist im Geiste der Offenheit und des nachbarschaftlichen Miteinanders entstanden.

Christine Goldberg, 1942 geboren, hat lachende Augen, langes graues Haar und einen festen Händedruck. Seit einigen Jahren schon lebt sie hier. Wie ihr oranges Haus ist Goldberg in der Familiensoziologie stets aus dem Rahmen gefallen. Das Fach ist in Österreich traditionell konservativ geprägt, was man von Goldberg nicht behaupten kann.

derStandard.at: Sie sind eine Familiensoziologin, die den Familienbegriff nicht gerne verwendet. Warum ist das so?

Goldberg: Weil man damit so viele Fantasien, die mit Partnerschaft zu tun haben, auf dieses Konstrukt eingeschränkt. Etwa die Liebe. Dabei findet die auch ganz woanders statt.

derStandard.at: Es wird sehr schnell emotional und ideologisch, wenn es um Familie geht. Lässt sich überhaupt neutral über Familie sprechen?

Goldberg: Jede und jeder hat selbst Erfahrungen mit Familie gemacht, positive oder negative. Deshalb glauben alle, bei dem Thema mitreden zu können. Familie wird von vielen Menschen immer noch als ein Ort verstanden, wo man so angenommen wird, wie man wirklich ist, wo man geliebt wird, wo man Kraft schöpfen kann. Dieses Modell ist aber nicht einlösbar. Das ist eine totale Überforderung der Familie. Es gibt wenige Felder, wo Wunsch und Wirklichkeit so weit auseinander liegen wie bei der Ehe.

derStandard.at: In den USA ist sowohl die Scheidungsrate als auch die Befürwortung der traditionellen Ehe extrem hoch. Warum werden so viele Erwartungen in die Familie projiziert, die sich dann nicht erfüllen?

Goldberg: Das hat mit dem Glücksversprechen zu tun, das die Familie bereithält. Dieses Glück existiert aber nur in den Köpfen der Leute und hat nichts mit der Realität zu tun, die von hohen Scheidungsraten und sehr oft von Gewalt in der Ehe geprägt ist. Jeder Mensch hat das Bedürfnis nach Nähe, nach Geborgenheit, nach Anerkennung - das ist einfach so. Die erste Projektion gilt da der Familie. Es fehlt uns an Erfahrungen, dass Bedürfnisse wie jenes nach Nähe auch in Gruppen eingelöst werden können, die nicht familiärer Natur sind.

derStandard.at: Plädieren Sie für Freundschaften statt Familie?

Goldberg: Es gab viele Experimente mit Wohngemeinschaften und Formen des alternativen Zusammenlebens. In diesen sozialen Netzwerken können Bedürfnisse nach Geborgenheit, Nähe und so weiter sehr wohl eingelöst werden. Aber die Idealisierung dieser Zusammenschlüsse ist eben nicht so groß wie die der Ehe und der Familie. Wer in eine Wohngemeinschaft zieht, weiß ja, dass es dort Konflikte geben wird.

derStandard.at: Woher kommt das Bedürfnis vieler Menschen nach einer Familiengründung, nach dem Zusammenleben mit einem Partner oder einer Partnerin und mit Kindern? Ist das evolutionsgeschichtlich zu erklären, oder ist letztlich doch das soziale Konstrukt der Kleinfamilie so mächtig, dass es sich als Wunschbild in den Köpfen hält?

Goldberg: Da ist einerseits das kulturell vermittelte Bild der romantischen Liebe: dass es irgendwo da draußen diesen einen Menschen gibt, der perfekt zu uns passt. Diese Annahme lenkt natürlich davon ab, dass zu einer Beziehung auch Streit und Konflikte gehören. Diese Unfähigkeit, Konflikte in der Partnerschaft auszutragen, trägt zur Romantisierung der Ehe und der Zweierbeziehung bei - weil man glaubt, dass es mit der richtigen Person den Konflikt nicht gegeben hätte.

In den USA sagen die Menschen nach einer Scheidung gerne: Das war eben nicht der oder die Richtige. Sie glauben beim ersten Konflikt, dass die Beziehung gescheitert ist. Das Ideal der perfekten Ehe stellen sie aber nicht infrage. Die Menschen suchen etwas, was es nicht gibt, und verzweifeln an der Realität. Eigentlich müssten schon Kinder früh lernen, Konflikte angstfrei auszutragen - weil das die wesentliche Grundlage für eine gute Liebesbeziehung im Erwachsenenleben ist.

derStandard.at: Hat die Familiengründung, und hier vor allem die Schwangerschaft für die Frau, heute nicht auch die Funktion eines kurzfristigen Ausstiegs aus dem Hamsterrad der Leistungsgesellschaft? Die Familie also im Sinne eines Hafens - aber nicht hin zur Bürgerlichkeit, sondern hinaus aus der Tretmühle?

Goldberg: Dieser Ausstieg wäre ein verständlicher Wunsch. Die Frage ist nur, warum dieses Bedürfnis bei Frauen stärker ausgeprägt ist als bei Männern. Denn die Männer stehen ja historisch gesehen schon viel länger unter beruflichem Druck. Die Regeneration gehört seit jeher zu den Funktionen der Familie. Früher war die Frau für die Regeneration des arbeitstätigen Mannes zuständig, hat ihn nach der Arbeit liebend empfangen, bekocht und ihm die Füße massiert. Jetzt sind auch die Frauen dort angelangt.

derStandard.at: Es gibt zuhauf Studien darüber, dass Mütter und Kinder davon profitieren, wenn die Mütter früh wieder einer für sie erfüllenden Arbeit nachgehen. Warum halten weite Teile der Gesellschaft am Ideal der hegenden und pflegenden Mutter fest, die ihren Beruf Familie zuliebe aufgibt?

Goldberg: Das hat einerseits ökonomische Gründe, gerade jetzt, wo die Krise auf die Arbeitsplatzsituation durchschlägt. Mütter, die zu Hause bleiben, sind keine Konkurrenz am Arbeitsmarkt. Die Zurück-an-den-Herd-Ideologie kommt da gerade recht. Es gibt zahllose Untersuchungen, die zeigen, wie sich Männer von Karrierefrauen bedroht fühlen. Wenn Frauen aber einmal erfahren haben, was es heißt, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und ökonomisch nicht vom Mann abhängig zu sein, werden sie es nicht mehr missen wollen.

derStandard.at: Margaret Thatcher hat einmal gesagt: Es gibt keine Gesellschaft, es gibt nur Individuen und ihre Familien. Woher kommt diese Idee, dass der Staat im Innersten von der Familie zusammengehalten wird? Und nicht etwa von Freundschaften zu Menschen, die man sich im Gegensatz zu den Verwandten ja selber aussucht?

Goldberg: Diese Schiene ist politisch sehr praktisch, weil sie Orientierung verspricht, nach der die Menschen suchen. Obendrein hat man mit dieser Position die Unterstützung der Kirche. Sich seine sozialen Netzwerke entlang der eigenen Werte selbst zusammenzusuchen ist natürlich weniger einfach, als die vorhandene Familie als gegeben hinzunehmen und nicht zu hinterfragen.

derStandard.at: Frankreich hat soeben die gleichgeschlechtliche Ehe eingeführt, in Österreich wird das Adoptionsgesetz ab Juli die Stiefkindadoption für homosexuelle verpartnerte Paare möglich machen. Was antworten Sie Menschen, die überzeugt sind, dass Kinder Vater und Mutter brauchen?

Goldberg: Entscheidend ist, dass einem Kind Liebe, Geborgenheit und Sicherheit gegeben werden. Ob das durch Pflegeeltern, Adoptiveltern, die leiblichen oder nichtleibliche Eltern, durch zwei Männer oder zwei Frauen geschieht, ist letztlich egal. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein gewünschtes Kind von seinen Eltern oder Erziehungsberechtigten geliebt wird, ist jedenfalls höher. Ich verstehe nicht, was man gegen Regenbogenfamilien haben kann.

derStandard.at: Eine häufige Kritik lautet, Kinder würden "männliche" und "weibliche" Vorbilder brauchen.

Goldberg: Ich halte nichts davon, die Elternschaft von Mutter und Vater mit weiblichen und männlichen Verhaltensweisen als Vorbild zu legitimieren. Bei den gängigen Weiblichkeits- und Männlichkeitskonstruktionen wird nämlich immer nur ein bestimmtes Bündel von Verhaltensweisen in den Blick genommen. Meistens sind das Stereotype und Einengungen, die man auf Männer oder Frauen projiziert. Diese Rollenbilder sind nicht positiv, weder für das Kind noch für die Erwachsenen.

derStandard.at: Wie wird die Zukunft der Familie aussehen?

Goldberg: Die Zukunft werden soziale Netzwerke und Freundschaften sein. Und zwar solche, die den Anspruch haben, Probleme anzusprechen und nicht zuzudecken, wie das in vielen Familien passiert. Das brauchen wir mehr denn je. Gelebte Beispiele liefern uns Studien über Karrierefrauen: Die schaffen beruflichen Erfolg und Elternschaft nur über soziale Netzwerke und Freundschaften. Das schließt Kinderbeaufsichtigung im Freundeskreis und Austausch über die berufliche Situation ein.

Soziale Netzwerke sind auch eine Antwort auf die riesige Einsamkeit in unserer Gesellschaft. Mit diesen selbst gewählten Netzwerken lassen sich unterschiedlichste Bedürfnisse befriedigen. Die Sargfabrik ist so eine Form: Man kann hier zu jedem hingehen und sich Hilfe oder Ansprache holen. Natürlich hat auch das seine Grenzen - wenn man zum Beispiel alters- oder krankheitsbedingt behindert ist. Da ist zusätzlich professionelle Hilfe nötig.

derStandard.at: Wann würden Sie von einer guten Beziehung zwischen Menschen sprechen?

Goldberg: Beglückend sind Beziehungen dann, wenn wir darin alles sein dürfen - unabhängig von Geschlecht, Rollenbildern und Alter. Wir möchten in einer Beziehung eine Vielfalt der Möglichkeiten des Seins verwirklichen.

derStandard.at: Sie selbst haben sich in Ihrem Leben nicht an Rollenbilder gehalten.

Goldberg: Nicht immer. Das hat viele Menschen verunsichert. Aber viele der Frauen, die mich kritisiert haben, sind Jahre später zu mir gekommen und haben gesagt: "Ich wollte eigentlich auch so leben wie du, aber ich habe mich nicht getraut. Darum war ich so gehässig zu dir." Unsere Aggressionen kommen oft aus den eigenen, den nicht gelebten Wünschen. (Lisa Mayr, derStandard.at, 3.6.2013)