Gabriele Dietze
Weiße Frauen in Bewegung
Genealogien und Konkurrenzen von Race- und Genderpolitiken
Transcript 2013
518 Seiten, 36,80 Euro

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Gabriele Dietze: "Ich wollte dazu anregen, dass der weiße Feminismus innerhalb Europas über die eigene privilegierte Position und Whiteness nachdenkt."

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Dietze über Barack Obama und Hillary Clinton: "Es war interessant, dass beide KandidatInnen zunächst nicht an die jeweiligen Bewegungen appelliert haben."

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In den USA waren viele weiße Feministinnen über den Ausgang prominenter Fälle von Gewalt gegen Frauen, etwa jenes von O. J. Simpson, bitter enttäuscht. Für zahlreiche AfroamerikanerInnen war es hingegen schwer zu ertragen, dass am Beispiel berühmter schwarzer Männer - darunter auch Mike Tyson und Michael Jackson - das rassistische Bild des sexuell gewalttätigen schwarzen Mannes bedient wurde, und das nur kurz nach Inkrafttreten der Bürgerrechtsgesetze, die die "Rassentrennung" der vorangegangenen Jahrhunderte aufhoben.

Die Amerikanistin Gabriele Dietze hat sich in einer umfangreichen Studie mit der Geschichte von Emanzipationsanstrengungen und dem Verhältnis zwischen dem weißen Feminismus und dem Kampf gegen Rassismus in den USA beschäftigt, die sie als "konkurrierende Race- und Genderdiskurse" fasst. Anhand aufsehenerregender Gerichtsprozesse und des demokratischen Vorwahlkampfs 2007/08 zwischen Barack Obama und Hillary Clinton zeigt sie auf, wie die Diskriminierungskategorien "Race" und Gender auf eindrückliche Weise miteinander in Konkurrenz traten. Im Interview mit dieStandard.at spricht Dietze über die kontraproduktiven Aspekte dieser Konkurrenzen und warum Fragen zu "Race" und Gender für die US-Gesellschaft so schmerzlich sind.

dieStandard.at: Sie sprechen im Zuge ihrer Untersuchungen von einer kontraproduktiven Konkurrenz zwischen "Race"- und Genderdiskursen. Inwiefern ist diese kontraproduktiv? 

Dietze: Die Konflikte zwischen diesen Diskursen verdecken andere - oft sind das ökonomische Konflikte. Wie schwer es in den USA ist, über soziale Fragen zu reden, konnten wir kürzlich an der für EuropäerInnen unverständlichen Aufregung um die allgemeine Krankenversicherung sehen. In Amerika ist es nicht unanständig zu sagen, dass man für Ärmere kein gesellschaftliches Kapital aufbringen will. Hier ist die Tellerwäschelegende noch intakt. In Europa hingegen ist es durch die Geschichte der Sozialdemokratie nicht verpönt, die Klassenfrage oder das Auseinanderdriften von Vermögen und Einkommen von LohnarbeiterInnen zu thematisieren.

dieStandard.at: Sie schreiben, dass dieser konkurrierende Aspekt den jeweiligen emanzipatorischen Bestrebungen zuwiderläuft: sowohl denen zur Gleichberechtigung von Frauen als auch denen von AfroamerikanerInnen. 

Dietze: Beide Gerechtigkeitsanforderungen sind sehr berechtigt, aber wenn sie in Konkurrenz zueinander organisiert sind, schwächen sie sich gegenseitig. Durch diese Rivalität wird sehr viel Kraft gebunden. Ein gutes Beispiel ist der Vorwahlkampf zwischen Hillary Clinton und Barack Obama 2007/2008. Sie haben sich lange der Konkurrenz hingegeben anstatt sich zu verbünden und damit ihre Wahlchancen deutlich geschmälert.

dieStandard.at: Was haben Sie beim Vorwahlkampf in Hinblick auf "Race"-Gender-Konkurrenzen noch beobachtet?

Dietze: Hillary Clinton hat sich erst nicht getraut, Sexismus zu einer großen Sache zu machen, obwohl sie vielen sexistischen Anfeindungen ausgesetzt war. Sich gegen Frauendiskriminierung stark zu machen ist einfach nicht sexy, dafür fehlt auch das große historische Pathos.

Nachdem Clinton aufgegeben hatte, hat sich die amerikanische Gesellschaft sehr in die "Race"-Frage verbissen. Ich bin ganz sicher, dass die Tea-Party-Bewegung in keiner Weise diese gesellschaftliche Durchschlagkraft gehabt hätte, wenn der Präsident nicht schwarz wäre. Das wird selten offen gesagt, aber es gab einen ganz großen Teil in der Bevölkerung, für den es nicht denkbar war, einen schwarzen Präsidenten zu haben. Letztlich konnten so soziale Themen vermieden werden. Denn erst die Tatsache, dass man gegen einen schwarzen demokratischen Präsidenten vorging, machte diese enorme Mobilisierung für einen konservativen Sieg bei den Zwischenwahlen möglich. So konnte die Gesundheitsreform, die von den Konservativen nie gewollt wurde, soweit behindert werden, dass sie nun bestenfalls nur ein Anfang ist.

dieStandard.at: Obama hat im Vorwahlkampf die "Race"-Karte aber auch nicht besonders stark ausgespielt.

Dietze: Es war interessant, dass beide KandidatInnen zunächst nicht an die jeweiligen Bewegungen appelliert haben. Barack Obama hat sehr lange vermeiden wollen, in diese amerikanische Geschichte der Nachsklaverei eingeschrieben zu werden. Wahrscheinlich aus Sorge, weiße WählerInnen zu verlieren.

Ich fand es als weiße Feministin schmerzlich, dass Clinton, sobald es eng wurde, viel stärker auf der Rassismus-Klaviatur, lustigerweise aber auch auf Class-Klaviatur spielte. Sie hat immer wieder Obamas Ausbildung an der Harvard-Universität betont, ebenso wie seine "Sensibilität" für die Upper Class, die sich mit dem Volk nicht auskennt. Das hat eine gewisse Ironie: Eine weiße Eliteanwältin beschuldigt den schwarzen Eliteanwalt des Elitismus.

dieStandard.at: Viele Feministinnen waren sehr enttäuscht über den Ausgang des Vorwahlkampfs.  

Dietze: Der weiße Feminismus hat Clinton lange unterstützt, auch aus der Überlegung heraus: wann, wenn nicht jetzt? Denn wenn unsere Generation der Frauenbewegungskämpferinnen der 1970er-Jahre noch jemanden von uns am Hebel der Weltmacht sehen will, dann müssen wir das jetzt hinkriegen. Als dann die historischen Konjunkturen zugunsten Obamas umschlugen, hat das durchaus zu einer Verbitterung weißer Frauen geführt. Eine Verbitterung, die es schon einmal gab, nämlich nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg, der damit endete, dass schwarze Männer das Wahlrecht bekamen, während Frauen, die sich auch gegen die Sklaverei starkmachten, dieses erst Jahrzehnte später bekamen.

dieStandard.at: Als weiteres Beispiel für die Konkurrenz zwischen "Race"- und Genderdiskursen führen Sie in Ihrem Buch große Prozesse gegen afroamerikanische Männer an.

Dietze: Vier große sexualpolitische Tribunale um Kindesmissbrauch, Date-Raping, häusliche Gewalt und sexuelle Belästigung wurden an berühmten schwarzen Männern vorgeführt: Michael Jackson, Mike Tyson, O. J. Simpson und dem Verfassungsrichter Clarence Thomas. Das war für die afroamerikanische Bevölkerung in den 1980ern aus demselben Grund schmerzlich wie die "Race"-Gender-Frage für die Vereinigten Staaten insgesamt - denn sie verweisen auf die Geschichte der Sklaverei.

Eines der schlimmsten Dinge in der Nachsklaverei ist die Geschichte des Lynching. Lange Zeit wurden viele schwarze Männer unter dem Vorwand, sie hätten eine weiße Frau vergewaltigt, durch öffentliche Mob-Gewalt ermordet. Die angebliche sexuelle Gewalt schwarzer Männer und die zu schützenden weißen Frauen waren ein Weg, die "Race"-Frage hochzuhalten und schwarzen Menschen Rechte zu verweigern. Das hat alles erst mit den Bürgerrechtsgesetzen Mitte der 1960er aufgehört. Und diese historischen Erinnerungen kann man, wenn es um Sexualität und "Race" geht, in amerikanischen Zusammenhängen aufrufen.

dieStandard.at: Wie passierte das in den erwähnten Prozessen?

Dietze: Ein Beispiel ist das Hill-Thomas-Hearing 1991, bei dem sexuelle Belästigung zum ersten Mal öffentlich verhandelt wurde. Der Richter Clarence Thomas belästigte seine Mitarbeiterin Anita Hill, die das bei einem öffentlichen Hearing vortrug, das darüber entschied, ob Thomas Verfassungsrichter werden kann. Als Thomas dann den Vorwurf des "High Tech Lynching" vorbrachte, ist das ganze Verfahren gekippt, und die sexualpolitische Frage, ob Sexual Harassment ein schweres Vergehen ist, wurde von der Geschichte der Sklaverei überschattet. Thomas hat seinen Job bekommen, und die Anklägerin Hill wurde diskriminiert.

dieStandard.at: Auch der Prozess gegen O. J. Simpson verärgerte viele Feministinnen.

Dietze: Diese vier Prozesse artikulierten die Unzufriedenheit der Frauenbewegung. Den Prozess gegen O. J. Simpson machte NOW, die amerikanische nationale Frauenbewegung, zum Kampagnenthema, um so öffentliches Bewusstsein für häusliche Gewalt zu schaffen.

O. J. Simpson wurde ja beschuldigt, seine weiße Ehefrau umgebracht zu haben, und davor war er ein prügelnder Ehemann. Als er freigesprochen wurde - übrigens zu Recht, aber nicht weil er möglicherweise unschuldig war, sondern weil Beweise gegen ihn von rassistischen Polizisten nachweislich gefälscht wurden -, ging ein Aufschrei durch den weißen Feminismus. Da entstanden tiefe Gräben zwischen weißen und schwarzen Feministinnen. Letztere kritisierten den Versuch des weißen Feminismus scharf, O. J. Simpson zu einem schwarzen "Poster Boy" für sexualpolitische Verfehlungen zu machen.

dieStandard.at: In einem Text über sexuelle Belästigung - "Es reicht! Gegen Sexismus im Beruf" - wird die Anhörung Hill-Thomas so eingeordnet: "Natürlich wurden in den USA rechtliche Möglichkeiten, rassistische Diskriminierung zu verfolgen, eher eingeführt als Gesetze gegen sexuelle Diskriminierung - wie üblich, wenn es um Anliegen von Frauen geht." Stimmt das?

Dietze: Ja, aber ich würde das nicht kritisieren, sondern das hat gute und wichtige Gründe. Die Sklaverei war ein ungeheuerliches System, und dass es nach der Befreiung der Sklaven bis in die 70er des letzten Jahrhunderts Apartheid und Lynching gegeben hat, zeigt, dass diese Gesetze als Schutz für das nackte Leben und gegen rassistische Diskriminierung absolut notwendig waren.

Außerdem hat die Zweite Frauenbewegung erst in den 70ern die großen Fragen über die Diskriminierung von Frauen aufgeworfen, insofern würde ich das nicht im Ton von "Wie unfair, dass diese Diskriminierung später dran war" kritisieren.

dieStandard.at: Gibt es derartige Konkurrenzen zwischen Gerechtigkeitsanforderungen auch in Europa?

Dietze: Ja, etwa bei Fragen der Migration. Es wird häufig darüber diskutiert, dass es keine Geschlechtergerechtigkeit in Migrationsfamilien gibt, dass Frauen unterdrückt werden, zwangsverheiratet sind oder Kopftücher tragen. Es wird nicht darüber geredet, dass man einfach keine Migration will, weil man um die Verteilung fürchtet oder weil Sozialausgaben an MigrantInnen gehen. Stattdessen wird behauptet, man wolle keine Migration, weil man Geschlechtergerechtigkeit will. Dann wird die emanzipierte Abstammungsdeutsche oder -österreicherin der unterdrückten Muslimin gegenübergestellt, und Migrationsfeindschaft wird als Emanzipationsprojekt verkauft. Wir haben also ähnliche Strukturen, die auch sexualpolitisch argumentiert werden.   

dieStandard.at: Auch Teile der Frauenbewegung tragen diese Argumentationen mit.

Dietze: Ich möchte nicht unfair sein, denn Mainstream-Feministinnen agieren ja mit einem ehrlich gemeinten Engagement, aber sie tun das eben manchmal gegen ihre unterdrückten Schwestern. Sie machen sich nicht klar, dass sie damit rechte Argumente legitimieren. Und dann können rechtspopulistische Parteien sagen: Die Feministinnen sehen das auch so.

dieStandard.at: Warum haben Sie Ihre Studie eigentlich mit "Weiße Frauen in Bewegung" betitelt?

Dietze: Damit wollte ich dazu anregen, dass der weiße Feminismus innerhalb Europas über die eigene privilegierte Position und Whiteness nachdenkt. Es sollen nicht nur die Gerechtigkeitsanforderungen in den Vordergrund gestellt werden, es soll auch gesehen werden, dass die Privilegien des weißen Feminismus auch Auswirkungen darauf haben, was mit anderen geschieht. Die Studie "Weiße Frauen" ist somit auch ein Versuch einer systematischen Selbstkritik des Feminismus, ohne ihn entwerten zu wollen. (Beate Hausbichler, dieStandard.at, 2.6.2013)