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Einbildung, Suggestion oder epileptische Anfälle? Wieso manche Menschen in gewissen Situationen ein Kribbeln im Hinterkopf spüren, ist wissenschaftlich nicht geklärt.

Foto: Reuters/Helgren

Es sind die absurdesten Dinge, die uns in youtube-Videos vorgeführt werden. Stundenlang lesen Frauen mit wispernder Stimme aus einem Buch vor, schlüpfen in die Rolle einer Friseurin, Männer spielen den Schuhverkäufer oder verpacken sorgsam Pakete. Es sind Tätigkeiten aus dem täglichen Leben, die - möchte man meinen - niemanden zum Zuschauen oder Zuhören verleiten würden. Und doch haben sich schon über eine Million Nutzer zum Beispiel Violets Haarschneide-Video auf Youtube abgerufen.

Warum? Sie erhoffen sich, dass die beruhigende Stimmen und Geräusche ein angenehmes Kribbeln im Hinterkopf auslösen. Die körperlich angenehme Reaktion, die sich bis in die Wirbelsäule und andere Gliedmaßen fortsetzen kann, bezeichnen ihre Anhänger als Autonomous Sensory Meridian Response (ASMR). Eine deutsche Übersetzung dafür gibt es noch nicht, was wohl auch darin begründet sein mag, dass die ASMR-Community bisher nur in den USA einen großen Bekanntheitsgrad erlangt hat. Erst vor kurzem ging die erste deutsche ASMR-Website online.

Flüstern, Klicken, Sortieren

Die Auslöser, die es für das ASMR-Gefühl braucht, sind sehr verschieden. Sie reichen von Stimmen, mit ungewöhnlichen Akzenten und Sprachmustern, über Rollenspiele, in denen Instruktionen gegeben werden, oder klickende Geräusche, bis hin zu sorgfältigem Inspizieren oder Sortieren von Alltagsgegenständen. Der "Kopforgasmus", wie er vielfach bezeichnet wird, kann aber von einigen auch nur durch die Steuerung der eigenen Gedanken erreicht werden.

Laufend berichten Menschen unter den Youtube-Videos oder in ASMR-Foren davon, dass sie bisher immer der Meinung waren, allein mit ihren Empfindungen zu sein. Das Internet ist für sie nun zur Fundgrube für die sogenannten "Trigger-Videos" geworden. Die besten ASMR-Videos werden über soziale Netzwerke weiterverbreitet und bewertet. Die ASMR-Plattform auf Reddit.com hat beispielsweise über 22.000 Abonennten. In der Huffington Post weist Journalist Nicholas Tufnell sogar auf die Suchtgefahr von ASMR hin, der er sich selbst durch der Jagd nach dem guten Gefühl ausgesetzt sieht. 

Keine neurologische Erklärung

Wissenschaftliche Forschung über ASMR, die Hinweise auf die tatsächliche Existenz, Ursache und Wirkung des Phänomens geben könnte, sucht man bisher vergeblich. Der Wiener Neurologe Wolfgang Lalouschek sagt zum Erkenntnisstand: "Aus heutiger Sicht gibt es keine wirkliche neurologisch, organische Erklärung, die man ASMR eindeutig zugrunde legen könnte."

Lalouscheks persönlicher Eindruck davon ist, dass es sich hierbei um ein sehr suggestives Phänomen handelt, bei dem Menschen ihr Fühlen beeinflussen und eine Eigendynamik entsteht: "Die Empfindung entsteht dadurch, dass jemand daran glaubt."

Nervennetzwerke verstärken sich

Ähnliches passiere auch manchmal bei Krankheiten. "Wenn jemand Panikattacken hat mit bestimmten körperlichen Gefühlen, zum Beispiel Schmerzen im Brustbereich, dann gibt es dafür oft keine organischen Ursachen. Es ist die verstärkte Aufmerksamkeit, die auf eine gewisse Region gerichtet wird. Minimale Signale werden dann stärker interpretiert, das System schaukelt sich hoch, sodass irgendwann wirklich Schmerz da ist", sagt Lalouschek.

Epileptische Anfälle werden ebenfalls als Erklärungsmöglichkeit für ASMR in Betracht gezogen. "Es gibt begrenzte (fokale) epileptische Anfälle. Wo jemand zum Beispiel plötzlich eine Geruchs- oder Geschmackswahrnehmung hat. Im Fall von ASMR  müsste man dann davon ausgehen, dass diese Personen auch tatsächlich während ihrer Erfahrung irgendeine Form von epileptischen Anfall haben. Das würde ich eher ausschließen", so Lalouschek. Dem ASMR-Phänomen wissenschaftlichen auf den Grund gehen zu können, sei grundsätzlich schwierig. Die Ursachen dafür könne man allein durch eine Betrachtung der Aktivität der Gehirnareale nicht ausfindig machen.

So viele Erklärungsansätze es für ASMR gibt, so viele unterschiedliche Nutzer der ASMR-Videos gibt es auch. Viele Menschen kennen das Kribbeln im Kopf nicht, verwenden die Clips aber zur Entspannung in Stresssituationen oder als Einschlafhilfe bei Schlafstörungen.

Häufig sind es junge, hübsche Frauen, die in den ASMR-Videos mit der Kamera flirten. Das hat dazu geführt, dass ASMR auch in einen sexuellen Kontext gerückt wird. Einige Videos sind bei Youtube als nicht jugendfrei gekennzeichnet. ASMR-Anhänger wehren sich jedoch dagegen, in dieses Eck gedrängt zu werden. Wo die Grenze zwischen dem Kribbeln im Kopf und sexuellen Empfindungen liegt, wird sehr individuell wahrgenommen. In jedem Fall sind es angenehme Gefühle, die die Flüstervideos im Netz hervorrufen wollen. (Teresa Eder, derStandard.at, 28.6.2013)