"Unter der Last des Krieges"

Ärzte ohne Grenzen / Médecins Sans Frontières (MSF)

"Der Tag, an dem mein Dorf bombardiert wurde"

Ärzte ohne Grenzen / Médecins Sans Frontières (MSF)

"Zwischen Ost und West"

Ärzte ohne Grenzen / Médecins Sans Frontières (MSF)

"Exodus erreicht Athen"

Ärzte ohne Grenzen / Médecins Sans Frontières (MSF)

Millionen Syrer sind auf der Flucht, viele haben ihr Heimatland Syrien verlassen und im benachbarten Ausland Zuflucht gefunden. Immer mehr schlagen aber auch die Route nach Europa ein. Agus Morales hat für Ärzte ohne Grenzen syrische Flüchtlinge bei ihrem Exodus aus den Kriegswirren in Syrien filmisch begleitet. Dabei machte er Station in Aleppo, im südtürkischen Kilis, Istanbul und in Griechenland. Im Gespräch mit derStandard.at erzählt er, wie aufgrund des kollabierenden syrischen Gesundheitssystems sogar leicht behandelbare Krankheiten zu ernsten Problemen führen und wie viele nach Europa geflüchtete Syrer ernüchtert über die geringe Unterstützung sind.

Fähre nach Europa: Syrische Flüchtlinge auf dem Weg nach Griechenland - dort angekommen sind viele ernüchtert. (Foto: Surinyach Anna/MSF/Syrien Exodus Project)
Foto: Surinyach Anna/MSF.

Interview

derStandard.at: Sie haben Flüchtlinge von Aleppo über die Türkei bis nach Europa filmisch begleitet. Wie ist die Idee zu den vier Kurzfilmen entstanden?

Morales: Wir haben uns die syrische Flüchtlingskrise angeschaut und gesehen, dass die Flüchtlinge im Norden Syriens gewissen Routen folgen. Daher sind wir zuerst in die Provinz Aleppo gereist, wo Ärzte ohne Grenzen ein Hospital betreibt. Dann sind wir weiter nach Kilis, im Süden der Türkei, gefahren – einer der ersten Stopps für Flüchtlinge. Weiter ging es nach Istanbul und zur griechischen Insel Lesbos und von dort aus nach Athen.

derStandard.at: In Syrien gibt es immer wieder Berichte über Entführungen von Ausländern – darunter auch Helfern. Wie gefährlich haben sie die Arbeit vor Ort empfunden?

Morales: Wir haben natürlich alle möglichen Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Wir haben strenge Sicherheitsauflagen, die wir auch versuchen zu befolgen, aber um ehrlich zu sein, haben oft die Syrer die meisten Probleme zu befürchten. Es gibt Fälle in denen zum Beispiel syrische Ärzte Drohungen und Probleme wegen ihrer Arbeit bekommen. Von dem, was ich mitbekommen habe, betreffen die meisten derartigen Vorfälle die Syrer selbst.

derStandard.at: Unabhängige Informationen aus Syrien sind rar, sie haben ihre Reise in Aleppo gestartet. Wie ist die Situation vor Ort?

Morales: Die dringendsten Bedürfnisse in den nördlichen Gebieten Syriens sind medizinische. Mehr als zwei Jahre nach dem Krieg ist das Gesundheitssystem praktisch kollabiert – sprich: die Menschen haben keinen Zugang zu oft einfachster medizinischer Versorgung. Dabei geht es nicht nur um die Versorgung von Verwundeten: Stellen sie sich zum Beispiel nur einen Fall von Diabetes in Nord-Syrien vor. Es gibt nur eine geringe Anzahl an funktionstüchtigen Spitälern. So eine Person konnte vor dem Krieg behandelt werden. Heute können solche Menschen einen Zeh oder ein ganzes Bein verlieren, nur weil sie keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung haben. Es geht also nicht nur um verwundete Personen, sondern auch um Menschen mit chronischen Erkrankungen oder schwangeren Frauen. Eine weiterer Aspekt ist auch die Angst, die die Menschen haben. Die Angst vor Angriffen und Zerstörung hat einen enormen Einfluss auf das tägliche Leben der Menschen.

derStandard.at: Wie groß ist das Problem der Traumatisierung?

Morales: Die Flüchtlinge sind natürlich fast alle geschockt. Es gibt alle möglichen Geschichten, auch von der Flucht selbst. Zum Beispiel ein 18-jähriges Mädchen, dem in Aleppo ins Bein geschossen wurde und in die Türkei getragen werden musste – jetzt sitzt sie im Rollstuhl und kann nicht gehen. Ein Mann, dem in den Fuß geschossen wurde und jetzt sein halbes Bein verloren hat. In Kilis gibt es unter anderem ein Programm für Menschen die schwer traumatisiert sind. Neben der medizinischen Erstversorgung ist auch die psychologische Versorgung extrem wichtig.

derStandard.at: Wie schwierig ist es für die Flüchtlinge in die Türkei zu kommen?

Morales: Das ist ganz unterschiedlich. Im Groben gibt es zwei Arten, die Grenze zu überqueren. Jene Syrer, die die Grenze legal überqueren und jene, die die Grenze illegal überqueren, weil sie oft keine Dokumente haben. Das hängt ganz von der individuellen Situation ab.

derStandard.at: Und wenn sie in der Türkei angekommen sind?

Morales: Auch in Kilis gibt es grob gesprochen zwei Typen von Flüchtlingen. Jene, die registriert sind und somit auch in den Flüchtlingscamp leben und versorgt sind. Jene, die nicht registriert sind, müssen außerhalb der Camps leben und sind daher in einer anderen Situation. Für diese Menschen wird es aber gerade mit der medizinischen Versorgung oft schwierig und da setzten wir an. Man darf auch nicht vergessen, wenn man sein Heimatland verlässt, trocknen die eigenen finanziellen Ressourcen schnell aus, die Menschen haben dann auch oft keine Familie oder Freunde, die ihnen helfen können. Diese Leute bleiben dann nicht lange in Kilis, sondern ziehen oft weiter.

derStandard.at: Haben die Flüchtlinge überhaupt noch Hoffnung auf eine Rückkehr nach Syrien?

Morales: Ich habe das gleiche Gebiet im November letzten Jahres besucht und hatte das Gefühl, dass viele Syrer ihr Land nicht verlassen wollen. Jene, die bereits geflohen sind, hatten große Hoffnung wieder zurückzukehren. Jetzt hat sich die Situation verändert. Zwar will die Mehrheit immer noch zurück nach Syrien, doch sind sie inzwischen sehr unsicher über die Zukunft ihres Landes.

derStandard.at: Sie haben einige Syrer auf ihren Weg nach Griechenland und damit Europa begleitet. Die Zahlen steigen zwar rapide, doch das ist immer noch die Minderheit der Flüchtlinge. Warum kommen derzeit noch relativ wenige Syrer nach Europa?

Morales: In einer derartigen Krise flüchten die meisten Menschen natürlich in benachbarte Länder wie die Türkei oder Jordanien. Aber langsam sehen wir auch mehr und mehr Menschen, die nach Europa kommen. Syrer bilden derzeit die größte Zahl an Flüchtlingen, die nach Griechenland kommen. Aber natürlich tragen die Nachbarländer Syriens nach wie vor die größte Bürde.

derStandard.at: Nach Europa zu kommen ist für die Flüchtlinge nicht einfach. Was führt letztlich zum Entschluss, die oft gefährliche Reise auf sich zu nehmen?

Morales: Das hängt von der einzelnen Person ab, aber die meisten wagen diesen Schritt, weil sie große Hoffnungen haben, dass sich ihr Leben in Europa verbessern wird. Das ist ein sehr schwieriger und risikoreicher Schritt ist, die Grenze zur EU zu überqueren. Wenn sie dann einmal angekommen sind, geht es ihnen aber oft schlecht.

derStandard.at: Sind die Syrer, die nach Griechenland geflohen sind, desillusioniert über Europa?

Morales: Es ist definitiv keine leichte Situation. Man kann das zwar nicht über alle sagen, aber wie man im Film sieht, haben einige Syrer große Hoffnungen auf Unterstützung in Europa. Doch sie werden von der Realität oft schnell eingeholt. In einigen Fällen haben sich syrische Flüchtlinge sogar dazu entschlossen, wieder in die Türkei zurückzukehren, weil es ihnen in Griechenland sehr schlecht geht.

(Stefan Binder, derStandard.at, 13.8.2013)

Map tiles by Stamen Design, under CC BY 3.0. Data by OpenStreetMap, under CC BY SA.