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War in der streng reglementierten Gesellschaft Japans zunächst ein Outcast: Haruki Murakami.

Foto: EPA/JORDI BEDMAR

Für die einen ist er ein Popstar der Literatur, ein Kultautor, für die anderen ein Anwärter auf den Nobelpreis: der japanische Bestsellerautor Haruki Murakami, der am 12. Jänner 65 Jahre alt wird. Fest steht, dass er einer der berühmtesten Gegenwartsautoren Japans ist und dass sich seine Bücher millionenfach verkaufen.

So startete sein jüngster Roman Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki am 12. April 2013 in Japan mit einer Rekordauflage von einer Million, und genau so viele Exemplare waren innerhalb von einer Woche verkauft. Dahinter steckt zum einen eine raffinierte Marketingstrategie - über den Inhalt dringt bis zum Erscheinungstag nichts nach außen und der Autor selbst macht sich so rar, dass öffentliche Auftritte und Äußerungen zur Sensation werden müssen - zum anderen hat Murakami eine riesige Fangemeinde. Vielleicht, weil seine Bücher berühren wie Musik. Vielleicht, weil sie in fantastische und surreale Welten führen und in unserer nüchternen, ökonomisierten Welt einige Lektürestunden lang das Abtauchen ins Absurde und Irreale erlauben.

Da regnet es Fische vom Himmel (Kafka am Strand), stehen zwei Monde am Firmament, führen Treppen in Parallelwelten (1Q84), ergreifen Schafe von Menschen Besitz (Wilde Schafsjagd), bevölkern Schwärzlinge den Untergrund von Tokio (Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt), verschwindet ein Elefant aus dem Zoo von Tokio ...

Murakami verfügt über ein schier unermessliches Reservoir an Fantasie, und er ist ein grandioser Erzähler, der sich der Märchen- und Mythenwelt Japans ebenso bedient wie der westlichen Psychologie: "Was mich interessiert, ist der Seelenzustand der Menschen. Der Untergrund der menschlichen Seele", meinte Murakami vor Jahren einmal in einem seiner seltenen Interviews mit der Autorin dieser Zeilen. Ans Schreiben gehe er wie im Traum, ohne Konzept und ohne Plan: "Ich habe nur die erste Szene, und daraus entwickelt sich die Geschichte wie von selbst." Als er das erzählte, war gerade sein Monumentalwerk 1Q84 fertig, das in der deutschen Übersetzung rund 1600 Seiten umfasst und an dem er drei Jahre lang geschrieben hat: "Es wäre für mich sehr langweilig gewesen, hätte ich Handlung und Ausgang vorweg gekannt!" Wahr oder nicht - es ist eine schöne Geschichte.

Von etwaigen Starallüren des Autors ist bei der persönlichen Begegnung nichts zu bemerken. Haruki Murakami wirkt sympathisch, sanft und zurückhaltend. Er spricht mit leiser Stimme, lässt sich auf ein Gespräch ein, wirkt interessiert am Gegenüber. Dem Zustandekommen eines Interviews können freilich mehrjährige Bemühungen vorausgehen. Zuletzt gelang dies im Spätherbst 2011, als Murakami, damals gerade Writer-in-Residence an der University of Hawaii, kurz in Tokio war.

Liebe und Schuld

Der Schock nach der dreifachen Katastrophe vom 11. März 2011 saß noch allen in den Knochen, die Lage beim havarierten Kraftwerk war besorgniserregend, nach und nach kamen Ungeheuerlichkeiten ans Tageslicht, und Murakami kritisierte mit erstaunlicher Offenheit das Vorgehen der Behörden, die Verantwortungslosigkeit von Tepco und die Pro-Atom-Politik seines Landes: "Ich finde, dass die Spitzenmanager von Tepco eigentlich ins Gefängnis gehören! Aber die japanische Staatsanwaltschaft erhebt keine Anklage. Und niemand übernimmt die Verantwortung. Das ist ein großer Fehler!"

Aktuelle Ereignisse politisch zu kommentieren sei nicht seine Aufgabe als Schriftsteller, betonte er auch, und er äußere sich nur in Ausnahmefällen. So prangerte er auch in seiner Preisrede zum Internationalen Premi Catalunya im Juni 2011 in Barcelona die Profitgier der Betreiberfirma des AKW Fukushima an.

Er wolle ein "dieser Zeit entsprechendes Werk" schreiben, hatte Murakami in dem Interview angekündigt. Doch Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki hat vordergründig nichts mit Erdbeben, Tsunami und dem Super-GAU im AKW Fukushima zu tun. Es ist vielmehr ein Roman über Freundschaft, Liebe, Schuld und die Notwendigkeit, sich der Vergangenheit zu stellen. Letzteres mag die Botschaft des Romans sein, wenn es denn eine gibt. Mit den Themen Tod, Trennung und Verlust rührt er an Existenziellem, das vor allem nach dem Tsunami in Japan viele bewegt. Protagonist Tsukuru Tazaki ist 36 Jahre alt und hält sich in jeder Hinsicht für mittelmäßig - für farblos eben. Während seiner Mittelschulzeit in Nagoya war er Teil einer fünfköpfigen, unzertrennlichen Clique. Eines Tages aber will die alte Clique nichts mehr mit ihm zu tun haben, ohne dass er den Grund dafür erfährt.

Der Ausschluss aus der Gruppe ist in der japanischen Gesellschaft eine besonders schlimme Erfahrung. Der Schmerz bringt ihn an den Rand des Selbstmords. Ein japanischer Kritiker vermeinte darin einen autobiografischen Bezug zu erkennen, habe doch Murakami selbst als junger Mann Erfahrungen mit dem Ausschluss aus einer Clique gemacht, woher auch dessen große Angst vor Zurückweisung stamme. Im Roman vergehen 16 Jahre, ehe sich Tsukuru Tazaki wieder mit diesem verdrängten Teil seiner Biografie beschäftigt.

Es ist eine Frau, die ihn dazu bringt: Sara, in die er sich verliebt hat und der er sich anvertraut hat. Die Begegnungen mit den Freunden von früher fördern schließlich Dramatisches zutage, machen ihn aber frei für ein neues Leben. Auffällig ist, dass Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki wieder in der Realität spielt und nicht in surreale Welten abtaucht, wie zuletzt in 1Q84. Das erschwert es durchaus, gewisse Wendungen nachzuvollziehen. So war der Grund für den Ausschluss Tazakis aus der Clique eine Vergewaltigung, die ihm angelastet wird.

Diese Konstruktion lässt einen als Leserin etwas ratlos und mit gewissem Unbehagen zurück. In Japan hat ein Kritiker in einem Deutungsversuch einen Bezug zur literarischen Tradition hergestellt und zu einer Legende aus dem 18. Jahrhundert, in der eine eifersüchtige Frau ihren Mann als Gespenst heimsucht.

Außenseiter und Einsame

Geboren wurde Haruki Murakami 1949 in Kioto und wuchs in Kobe auf. Noch während des Studiums heiratet er, jobbt und schlägt sich jahrelang mit wenig Geld durch. Acht Jahre lang führt er den Jazzclub Peter Cat. Erst 1975 beendet er sein Studium der Theaterwissenschaften, Literatur und Film an der Waseda-Universität. Bei ihm sei alles verkehrt herum gelaufen, meinte Murakami, denn damals hatte man nach der Reihenfolge: Universität, Job, Heirat zu leben. In der streng reglementierten Gesellschaft Japans sei er ein Outcast gewesen. Vielleicht hat er deshalb in seiner Literatur so viel übrig für die, die ein wenig anders sind, die Außenseiter, die Einsamen, die Unangepassten, und trifft mit den Stimmungen seiner Romane stets ins Schwarze.

In den 1980er-Jahren, als er seine ersten großen Erfolge hatte, wurde er als die Stimme der jungen Generation Japans gefeiert. Heute sind seine ProtagonistInnen meist in ihren Dreißigern, und Murakami trifft auch mit 65 immer noch ihr Lebensgefühl. Vielleicht, weil es bei ihm stets um so Elementares wie Liebe, Sex, Freundschaft, Einsamkeit oder Tod geht: "Am glücklichsten macht es mich, wenn mir Mutter und Tochter erzählen, dass sie gemeinsam meine Bücher lesen!" Der Erfolg setzte mit dem Roman Wilde Schafsjagd ein. 1984 erhielt er für Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt den renommierten Tanizaki-Literaturpreis. Der Durchbruch kam 1987 mit norway no mori, nach der Beatles Nummer Norwegian Wood.

Der Erfolg war so groß, dass Murakami geradezu in die USA flüchtete. Von dem Roman, der 2001 auf Deutsch als Naokos Lächeln in der Übersetzung von Ursula Gräfe erschien, die großartige Übersetzerin hat die meisten seiner Bücher übertragen, wurden weltweit 13 Millionen Exemplare verkauft. 1995, das ebenfalls ein Katastrophenjahr für Japan war, kehrte er aus Solidarität mit seiner Heimat zurück.

Auf das schwere Erdbeben von Kobe im Jänner und den Sarin-Giftgasanschlag auf die Tokioter U-Bahn im März reagierte Murakami mit zwei Büchern: dem Erzählband Nach dem Beben sowie Untergrundkrieg, einem dokumentarischen Werk, für das er rund 60 Opfer und Täter interviewte und die Gerichtsverhandlungen gegen die angeklagten Mitglieder der Aum-Sekte besuchte.

Vielleicht setzt er sich ja in einem seiner nächsten Werke auf ähnliche Weise explizit mit der nuklearen Katastrophe, den Ursachen und Folgen auseinander. Stoff dafür gäbe es genug. (Judith Brandner, Album, DER STANDARD, 11./12.1.2014)