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"Zyklusbewusstsein bringt Frauen Selbstbestimmung", sagt Gynäkologin Hengstberger.

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Maria Hengstberger (73) ist Gynäkologin mit eigener Praxis seit 1976, engagiert sich fast ebenso lange in der Entwicklungshilfe. Sie war bei zahlreichen Hilfsprojekten als Gynäkologin involviert und hat 1989 selbst die Aktion Regen gegründet, die in vielen Ländern Ostafrikas aktiv ist. Ihre Mission: Wissen über Körperbewusstsein in Afrika genauso wie in der westlichen Welt zu verbreiten nach dem Motto "Wissen vermitteln heißt Freiheit weitergeben".

STANDARD: Laut Schätzungen gibt es 40.000 Schwangerschaftsabbrüche in Österreich im Jahr. Sind Frauen so schlecht aufgeklärt?

Maria Hengstberger: Es gibt viele Gründe für Schwangerschaftsabbrüche. Einer ist aus meiner Sicht auch die mangelnde Kenntnis vieler Frauen über ihren eigenen Körper. Die Physiologie hinter dem Monatszyklus ist eine komplexe Sache. Es wäre wichtig, darüber Bescheid zu wissen.

STANDARD: Sie meinen Familienplanung?

Hengstberger: Auch, aber nicht nur. Es geht nicht immer um Verhütung, sondern auch darum, die unterschiedlichen Leistungsphasen in einem Monat für sich zu nutzen. Vor und um die Zeit des Eisprungs haben die meisten Frauen unter der Östrogendominanz viel Energie. Wer Sport macht, sollte das ausnützen, denn in den Tagen vor der Menstruation ist das Gegenteil der Fall. Dieses weibliche Körperbewusstsein ist in den letzten Jahrzehnten verloren gegangen.

STANDARD: Inwiefern?

Hengstberger: Unter anderem durch den massiven Einsatz der Antibabypille. Als ich als Gynäkologin zu arbeiten begann, war sie ein Medikament, und jede Frau hat sich gut überlegt, ob sie es einnehmen soll. Heute ist das anders. Ein junges Mädchen, das die Menstruation bekommt, geht zum Gynäkologen und will die Pille. Teilweise wird sie schon ganz jungen Mädchen verschrieben. Ich habe Schulklassen erlebt, in denen fast alle Mädchen die Pille eingenommen haben. Oft nicht wegen der Verhütung, sondern um Menstruationsbeschwerden zu lindern. Nach dem Motto: Wer Schmerzen hat, ist selbst schuld, weil die Pille ja ein Mittel dagegen wäre.

STANDARD: Sind Sie gegen die Antibabypille?

Hengstberger: Aber natürlich nicht. Ich bin Gynäkologin und habe sie Frauen jahrzehntelang verschrieben. Es ist ein gutes Mittel bei sehr starken Menstruationsbeschwerden. Auch in Lebensphasen, in denen eine Frau eine Schwangerschaft unbedingt vermeiden will. Ich denke nur, dass dieser bedenkenlose Einsatz der Antibabypille die Ausbildung eines individuellen Körperbewusstseins bei Mädchen und jungen Frauen verhindert. Das geht aber nur ohne hormonelle Manipulation. Zyklusbewusstsein, das ist meine Mission. Es ist ein Wissen, das in der westlichen Welt verlorengeht.

STANDARD: Wer sollte Zyklusbewusstsein vermitteln? Die Mütter?

Hengstberger: Das ist schwierig, denn Frauen zwischen 20 und 45 Jahren sind bereits in der Generation der Antibabypillen aufgewachsen. Sie wissen also selbst nicht mehr Bescheid. Ich denke, es ist die Aufgabe von Pädagogen. Hilfreich sind Hilfsmittel, die den Zyklus visualisieren, um die verschiedenen Phasen kennenzulernen. Jede Frau kann lernen, ihren Eisprung zu spüren, wenn sie ihre Aufmerksamkeit darauf richtet. Damit kann sie ihren Körper und ihre Lebenssituation kontrollieren. Das bringt Selbstbestimmung. Wer sie nicht hat, fühlt sich den Körperfunktionen ausgeliefert.

STANDARD: Wäre es nicht auch die Aufgabe von Gynäkologen?

Hengstberger: Der Körper folgt komplexen Rhythmen. Ihn zu verstehen, braucht Zeit. Man muss drüber reden. Zeit wird nicht besonders honoriert in unserem Gesundheitssystem. Die Antibabypille zu verschreiben, ist in vielen Fällen für Ärzte sicherer. Schwangerschaften werden vermieden, und die Menstruationsbeschwerden, oft starke Schmerzen, verschwinden. An und für sich haben junge Frauen großes Interesse für ihren Körper.

STANDARD: Besteht nicht die Gefahr einer natürlichen Geburtenkontrolle, die doch äußerst unsicher ist?

Hengstberger: Nur für jene, die ihren Körper nicht gut kennen. Wer sich die Eigenbeobachtung angewöhnt, gewinnt Kontrolle und erkennt Dinge, unter anderen auch, wie Stress auf den Körper wirkt. Es ist eine Form der Introspektion, ein natürlicher Umgang mit sich selbst, von dem ich spreche. Das ist schließlich auch wichtig, wenn Frauen eines Tages schwanger werden wollen. Aber wie gesagt, ich bin nicht gegen die Antibabypille, nur für das Kennenlernen der Körperphysiologie.

STANDARD: Sie arbeiten viel in Afrika. Dort haben Frauen nicht die Möglichkeiten zur Verhütung wie wir in der westlichen Welt. Ist ihre Mission dort entstanden?

Hengstberger: Das stimmt so nicht. In Afrika haben Frauen heute schon eine ganze Reihe von Möglichkeiten, auch Medikamente. In vielen Teilen sichern aber Kinder dort das Überleben. Das ist eine andere Voraussetzung. Aber natürlich ist es dort noch wichtiger, den eigenen Zyklus zu kennen. Etwa damit die Frauen dort ihre Kinder nicht zu schnell hintereinander bekommen, weil das gefährlich sein kann. Meine Erfahrung ist: Weibliches Körperbewusstsein ist überall wichtig. Die Entwicklungsarbeit hat mich kreativ im Vermitteln von medizinischen Inhalten werden lassen.

STANDARD:  Was konkret wollen Sie erreichen?

Hengstberger: Im Rahmen der Aktion Regen haben wir Hilfsmitteln zum Zyklusbewusstsein entwickelt. Es sind Perlenketten. Jede Perle symbolisiert einen Tag, die Farben zeigen fruchtbare und unfruchtbare Tage an. Mit einem Gummiringerl, das nur in eine Richtung weitergeschoben werden kann, markieren Frauen, wo sie im Zyklus stehen. Nach drei Monaten hat das jede verstanden. Viele Frauen hier oder in Afrika werden sehr schnell nach der Geburt wieder schwanger, weil sie glauben, Stillen schützt vor Schwangerschaft. Das tut es nur die ersten sechs Monate und auch nur dann, wenn eine Frau voll stillt. In 30 Jahren Entwicklungsarbeit gibt es so viele Dinge, die für Frauen wichtig zu wissen sind. Ich will sie für die nächsten Generationen erhalten. (Karin Pollack, DER STANDARD, 27.5.2014)