Durch den Wind: Im Kaleidoskop aus Freude, Trauer, Euphorie oder Depression bestimmt auch die Gesellschaft, was psychisch als krank einzustufen ist.

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Es geht nie von einem Tag auf den anderen, sondern schleichend. Viel Arbeit macht müde. Das kennt jeder. Diesmal dauert die Erschöpfung allerdings schon recht lange. Solche Zustände sind früher nach einiger Zeit wieder vorübergegangen. Das Aufstehen morgens fällt aber auch schwer, Lustlosigkeit, alles ist insgesamt irgendwie freudlos. Die Crux an Gefühlen wie Erschöpfung, aber auch Freude, Traurigkeit oder Angst: Ihre jeweiligen Bandbreiten sind groß.

Müdigkeit und Erschöpfung, Freude und Euphorie, Vorsicht und Panik - das Spektrum von Emotionen ist weit und verändert sich ständig. Ist ein "Durchhänger", wie ihn alle wohl schon einmal hatten, ein Zeichen dafür, dass etwas nicht stimmt, man also "zu" traurig, "zu" antrieblos ist - und damit schon krank?

Wo Gesundheit endet und Krankheit beginnt

Ob es sich um ein Alltagsproblem handelt oder eine psychiatrische Erkrankung, ist oft schwer einzuschätzen. Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, kurz DSM, hat bei dieser Frage in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr an öffentlicher Bedeutung gewonnen. Es wird in unterschiedlichen Abständen überarbeitet und ist ein Bestseller. Genutzt wird das Buch längst nicht mehr nur von Psychiatern, sondern auch von Psychologinnen, Psychotherapeuten oder Sozialarbeiterinnen. In der aktuellsten Ausgabe, die seit Mai vergangenen Jahres vorliegt, kann etwa nachgelesen werden, welche Symptome bei ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung), bei der Essstörung Binge Eating oder bei einer Depression vorliegen. Das Burnout hat es hingegen bisher nicht ins DSM geschafft.

Ganz generell wächst die Anzahl der Diagnosen. Sowohl das DSM als auch die IDC, die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, die von der WHO herausgegeben wird, sind in ihrem Umfang von schmalen Büchern zu dicken Wälzern angewachsen. Genau hier setzt auch die Kritik an den Nachschlagewerken an: zu viel des Anormalen. Ein Kritiker ist der US-Psychiater Allen Frances, Autor des Buches Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen. Frances war Vorsitzender der Kommission, die die vierte Auflage des DSM durchgeführt hat, und war auch schon beim DSM-3 mit dabei. Er kritisiert am DSM-5 den Trend zur Überdiagnostizierung.

Patrick Frottier, Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin in Wien, sieht das Problem vor allem im Umgang mit dem DSM und der ICD. "Das sind keine psychiatrischen Lehrbücher", betont er. Für eine Diagnose sei es nicht ausreichend, die Symptome aus diesen Büchern mit Symptomen eines Patienten abzugleichen. Für Frottier liegt ihr Wert darin, dass sie ein brauchbares Kommunikationswerkzeug sind, damit Beteiligte wissen, wovon genau die Rede ist. Vor allem sind diese Kompendien Grundlage für die Verrechnung mit Krankenkassen: Damit Behandlungskosten übernommen werden, ist eine Diagnosenummer aus der ICD die Voraussetzung.

Historische Wurzeln

Auch das von der American Psychiatric Associaton (APA) erstellte DSM hat diesen Hintergrund. Das DSM-1 war ursprünglich eine Idee des US-amerikanischen Militärs: Ein Soldat, der einen Fuß im Krieg verlor, bekam finanzielle Unterstützung. Die sollte es auch für Soldaten mit psychischen Belastungen geben. Abgesehen von diesem ökonomischen Zweck hatte das DSM vorerst nicht viel Bedeutung. Das änderte sich in den 1970er-Jahren, als die Psychiatrie durch das Aufkommen evidenzbasierter Studien zunehmend unter Druck geriet. Eine Studie zeigte etwa, dass bei ein und demselben Patienten und identen Symptomen unterschiedliche Diagnosen gestellt wurden. Psychiatern in Europa und Amerika wurde per Videos ein Patient gezeigt, die Diagnose war aber - je nach Land - unterschiedlich. Aufgrund solcher Schwierigkeiten entschied man sich, ein Diagnosesystem zu entwickeln, bei dem es eine hohe Übereinstimmung geben sollte - unabhängig wo oder wer die Diagnose stellt.

Die ersten Ausgaben des DSM standen somit vor allem im Zeichen des Ziels, mehr Wissenschaftlichkeit bezüglich der Übereinstimmung zu erreichen. "Heute wird anhand dieser Bücher eine Depression diagnostiziert, weil eine Person fünf von neun Symptome aufweist", kritisiert Frottier. Mit klinischer Depression habe das wenig zu tun. So könnten auf eine Person mit einer Depression nur drei Symptome zutreffen, dennoch könne es sich um eine schwere Depression handeln - da müssen auch andere zentrale Faktoren Beachtung finden.

Konkret: Leidensdruck, eingeschränkte soziale Funktionsfähigkeit und das klinische Gesamtbild ergeben eine psychiatrische Diagnose. Die Psychiatrie berücksichtigt diese Ebenen, bevor eine Diagnose gestellt wird. Wenn zum Beispiel besorgte Eltern ihr Kind zur Psychiaterin schicken, weil es sehr schüchtern und die meiste Zeit für sich allein ist, muss für das Kind selbst deshalb noch kein Leidensdruck bestehen. Das heißt, dass eine Symptomatik nicht zwingend zu einer Diagnose führt.

Norm der Mehrheit

Abweichungen von einer Norm allein begründen auch noch keine Störung. Die Orientierung an einer Mehrheitsnorm ist daher problematisch, sagt Frottier und bringt ein Beispiel aus der Zahnmedizin: 90 Prozent der Österreicher haben Karies - demnach hätte ein Mensch ohne Karies eine Störung. "In der Psychiatrie interessiert mich die Abweichung im Leben eines Menschen, aufgrund derer er seinen gewünschten Lebensweg nicht mehr weitergehen kann", so Frottier. Die Klassifikation "normal" wird so zu einer höchst individuellen Angelegenheit.

Und trotzdem: Was mehr oder weniger als Abweichung empfunden wird, darüber bestimmt auch der Zeitgeist einer Gesellschaft. So scheint der Begriff Burnout zwar im DSM-5 nicht auf, dennoch ist er omnipräsent. Hat jede Zeit ihre vorrangigen psychischen Erkrankungen? Gibt es Krankheiten, die in der heutigen Gesellschaft stärker stigmatisiert werden als in früheren Zeiten?

Patrick Frottier sieht die häufige Diagnose Burnout in einem solchen Stigma begründet. Viele Menschen seien in unserer Gesellschaft sehr erschöpft, "aber die Diagnose der Depression wollen sie wegen der Stigmatisierung nicht haben. Wenn der Manager vom Psychiater die Diagnose Burnout bekommt, sagt das auch aus: 'Der arbeitet viel.' Mit der Diagnose der Depression wird womöglich ausgesagt: 'Der vermeidet die Anstrengung.'"

Das in der Psychiatrie etablierte biopsychosoziale Modell veranschaulicht, dass bei psychiatrischen Erkrankungen neben physischen Ursachen in gleichem Ausmaß auch psychologische und soziale Ursachen (wie Armut oder Arbeitslosigkeit) zum Tragen kommen. Außerdem kann das soziale Umfeld durch stigmatisierende Zuordnungen jemanden vorschnell als krank einstufen, ohne dass eine Krankheit vorliegt - nicht ohne Auswirkungen auf das kollektive Empfinden über "normales Verhalten". So war etwa Homosexualität bis in die 1970er-Jahre als psychiatrische Störung im DSM vermerkt.

Der Normalopath

Und was ist nun normal? Patrick Frottier veranschaulicht das Problem der psychiatrischen Diagnostik anhand der Differenz zu anderen medizinischen Fachrichtungen. Symptome werden gesammelt und zu einem Syndrom zusammengefasst. Dieses kann durch einen Befund bestätigt werden. Kennt man die Ursache des Syndroms und möglicherweise die richtige Behandlung, dann nennt man das eine Krankheit. Die Psychiatrie, so Frottier, muss bereits früher haltmachen: "Wir haben Symptome und fassen sie zu Syndromen zusammen. Wenn wir aber weder die Ursachen kennen noch die Behandlungen absolut verallgemeinern können, können wir dies nicht als Krankheit bezeichnen." Ausnahmen sind die organisch begründbaren Psychosen, etwa infolge einer Infektion wie bei Syphilis.

"Psychiater und Psychiaterinnen müssen sich deshalb laufend in ihrer Interaktion mit Patienten und Patientinnen selbst schulen", sagt Psychiater Frottier. Die individuelle Erfahrung und das Lernen von Patienten und Patientinnen begründen letztlich auch das Fachgebiet der Psychiatrie. Ob jemand krank oder normal ist, entscheidet sich innerhalb dieser Interaktion. "Wenn sich jemand als normal bezeichnet, ist das jedenfalls noch kein Ausschließungsgrund für eine psychiatrische Erkrankung. Und jemand, der anders ist als die Mehrheit, ist deshalb auch noch lange nicht krank." (Beate Hausbichler, DER STANDARD, CURE, 19.8.2014)