Rekonstruktion des Mordes am Philosophen Moritz Schlick, der am 22. Juni 1936 von seinem ehemaligen Dissertanten Hans Nelböck in der Universität Wien erschossen wurde. Über die Folgen der Jahre 1933 bis 1938 für die Wissenschaft in Österreich ist nach wie vor nur wenig bekannt.

Illustration: Polizeiarchiv

Wien - Am Morgen des 22. Juni 1936 herrscht im Hauptgebäude der Uni Wien geschäftiges Treiben. Der Philosophieprofessor Moritz Schlick ist auf dem Weg in den Hörsaal 41, wo er seine Vorlesung halten will. Auf der Stiege stellt ihn ein Mann, den er fürchtet: Hans Nelböck hat bei ihm fünf Jahre zuvor dissertiert - und ihm bereits zweimal mit Mord gedroht. "So Hund, du verfluchter, jetzt hast du es!", schreit Nelböck und feuert viermal auf seinen Doktorvater. Eine der Kugeln aus der Pistole durchdringt das Herz des Opfers, Schlick stirbt noch vor dem Eintreffen ärztlicher Hilfe.

Am Tatort ist heute eine Tafel in den Boden eingelassen, die an das Attentat erinnert: "Moritz Schlick, Protagonist des Wiener Kreises, wurde am 22. Juni 1936 an dieser Stelle ermordet. Ein durch Rassismus und Intoleranz vergiftetes geistiges Klima hat zu dieser Tat beigetragen." Bei Prüfung der Faktenlage bleibt freilich umstritten, wie groß dieser Beitrag tatsächlich war: Beim Täter war bereits zuvor eine schizoide Persönlichkeitsstörung diagnostiziert worden.

Die Vergiftung des geistigen Klimas zeigte sich eher an den Reaktionen auf die Tat. So schrieb ein "Prof. Dr. Austriacus" in einem katholischen Wochenblatt, dass im Fall Schlick "der unheilvolle geistige Einfluss des Judentums an den Tag" gekommen sei. Der Text, der vom Unidozenten Johannes Sauter stammte, endete mit der Forderung, dass "auf die philosophischen Lehrstühle der Wiener Universität im christlich-deutschen Österreich christliche Philosophen" gehören - in Verkennung der Tatsache, dass Schlick selbst Protestant war.

Allein über den Mord an Moritz Schlick gibt es gut zwei Dutzend wissenschaftliche Arbeiten, deren Neuigkeitswert zuletzt eher gegen null ging. Umso erstaunlicher ist es, dass über die Universitäten unter dem Kruckenkreuz 80 Jahre danach keine einzige brauchbare Gesamtdarstellung vorliegt.

"Das liegt womöglich daran, dass die Jahre nach 1933 als der 'kleinere Einschnitt' für die Unis gelten - verglichen mit dem, was nach dem 'Anschluss' 1938 passierte", sagt Linda Erker. Das mag im direkten Vergleich auch stimmen, so die Zeithistorikerin von der Uni Wien (siehe Geistesblitz). "Aber auch die Folgen des Austrofaschismus für die Hochschulen des Landes waren kurz- und langfristig fatal." Erker arbeitet seit drei Jahren an einer Dissertation, in der sie die Uni Wien unter Dollfuß und Schuschnigg mit der Uni Madrid unter Franco vergleicht. In beiden Fällen wurde, wie nicht weiter überraschend, die Autonomie vom jeweiligen Regime immer stärker beschnitten, um sie in regimetreue Erziehungsanstalten umzufunktionieren.

Radikale Personalkürzungen

Überraschend ist aber unter anderem, was Erker über die Entwicklungen beim wissenschaftlichen Personal an der Uni Wien zwischen 1933 und 1938 herausfand. "Allein durch das von der eher wissenschaftsfeindlichen Regierung verordnete Sparprogramm, das für viele politisch motivierte Zwangspensionierungen genützt wurde, verlor die Uni Wien zwischen 1932 und 1937 fast ein Viertel der Professorenstellen, was einen der tiefsten Einschnitte in ihrer Geschichte markiert", sagt Erker.

Hatte die Uni Wien Ende 1932 noch 181 ordentliche oder außerordentliche Professoren (und keine einzige Professorin), so waren Ende 1937 nur noch 138 übrig. Zum Vergleich: Bis 1944 ging diese Zahl "nur" auf 124 zurück, und die Anzahl der ordentlichen Professoren blieb unter dem NS-Regime gleich - auch wenn nach 1938 natürlich weitaus mehr Unilehrer aus "rassistischen" und politischen Gründen entlassen, vertrieben und durch regimetreue Forscher ersetzt wurden.

"Im Kleinen ist das aber auch im Austrofaschismus passiert", sagt Erker und verweist auf eine Rede Hans Pernters vom November 1935. Der austrofaschistische Unterrichtsminister habe vor Kollegen des Cartellverbands gefordert: "Jede frei werdende Lehrkanzel muss, wenn der entsprechende Mann vorhanden ist, mit einem Hochschullehrer von vaterlandstreuer und womöglich auch noch besonders christlicher Gesinnung besetzt werden." Eine gewisse Anzahl Unbelehrbarer müsse "einfach ausgeschaltet werden".

Dazu zählten vor allem, aber nicht nur Unilehrer, die mit dem Nationalsozialismus sympathisierten: Allein an der Universität Wien wurden mehr als ein Dutzend von ihnen pensioniert oder verloren die Lehrberechtigung. "Linke Professoren hingegen waren an der Universität Wien 1933/34 kaum mehr vorhanden", sagt Erker. "Die waren von der bis Ende 1932 bestehenden Allianz von antisemitischen Christlichsozialen und Deutschnationalen, die bis dahin die Uni dominierten, weggemobbt worden. Linke, Liberale, Juden und Frauen hatten damals längst keine Chancen mehr auf eine Karriere."

Einer der ganz wenigen verbliebenen Linken war der Anatom und Gesundheitsstadtrat Julius Tandler, der 1934 sofort zwangsemeritiert wurde. Sein Nachfolger war ein gewisser Gustav Sauser, treues CV-Mitglied, aber ein eher unbedeutender Forscher. "So bringt der Klerikofaschismus die Wiener medizinische Schule herunter", ätzte die Arbeiter-Zeitung. Auffällig sei auch, dass nach 1934 viele Wissenschafter jüdischer Herkunft in Frühpension geschickt wurden, sagt Erker.

Nach 1945 ging es im Unterrichtsministerium und an den Unis mindestens zwei Jahrzehnte lang mit den bewährten Führungskräften aus dem Austrofaschismus weiter, was für eine weitere Provinzialisierung der heimischen Wissenschaft sorgte: Der 1935 eingesetzte Anführer der ÖH war bis 1964 Unterrichtsminister (Heinrich Drimmel), der ab 1934 für die politischen Säuberungen zuständige Ministerialrat stieg nach 1945 zum allmächtigen Sektionschef auf (Otto Skrbensky), und der letzte Justizminister im Austrofaschismus wurde nach dem Krieg erster Rektor der Uni Wien (Ludwig Adamovich sen.). (Klaus Taschwer, DER STANDARD, 22.10.2014)