Arno Endler: "Am Anfang" und Patrick Schön (Hrsg.): "2112"
Broschiert, 223 bzw. 160 Seiten, € 9,90, bzw. 8,90, jeweils p.machinery 2014
Kaum Schritt zu halten ist mit dem Output von p.machinery! Und wie zur Bestätigung legt mir die Redaktionsassistentin grad ein neues Paket auf den Tisch, während ich dies eintippe. In stetem Strom kommen von dem kleinen bayrischen Verlag Romane, Anthologien und Sachtexte - alle in kleinformatigen, eher dünnen Bänden, die sehr an die Zeit erinnern, als SF-Literatur noch ein kostengünstiges Massenprodukt für das schnelle Vergnügen war. Oder anders ausgedrückt: Gelebte Popkultur!
Aus der jüngsten Tranche habe ich mir zwei Kurzgeschichtensammlungen herausgegriffen - ganz einfach, weil ich Kurzgeschichten an sich sehr mag und es nicht mehr viele Verlage gibt, die welche zu einem Buch zusammenstellen (oder wenigstens zu einem Büchlein). Zudem lassen sich beide auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Man sollte sich bei Kurzgeschichten so weit wie nur möglich auf das eigentliche Geschehen beschränken und es nicht unter zuviel Hintergrundinformationen ersticken. Mehr Mut zur kleinen Bühne!
Am besten aufs Wesentliche konzentrieren
Aus dem Dystopien-Band "2112" hat mir daher auch mit Abstand am besten diejenige Geschichte gefallen, die dies am meisten beherzigt: "Animal" von Julia Müller dreht sich um eine Clique von Jugendlichen, die ihren eigenen Akt von Subversion entwickelt haben. Ihr Initiationsritual, für das ein neues Mitglied eine Verbindung mit einem giftigen Tier eingehen muss, findet draußen in der Wildnis statt: Gleichsam herausgelöst aus einem erdrückenden Kontext und dadurch freigespielt, um sich aufs Wesentliche zu konzentrieren. An Hintergrundinformationen erhalten wir nur ein paar Andeutungen, aus denen wir uns das Bild einer stark reglementierten Gesellschaft zusammenreimen können. Aber mehr brauchen wir auch nicht.
Ähnlich fokussiert ist "Der Sprung" von Jon Padriks, einem der Pseudonyme von Herausgeber Patrick Schön. Hier steht der Insasse eines Gefangenenlagers vor der Entscheidung, ob er resignieren oder doch noch weiterhoffen soll. Außerdem sei noch die parabelartige Erzählung "Jiddhais Nachbarn" von Gabriele Behrend genannt - nicht zuletzt deshalb, weil sie einen der raren Momente des Aufatmens in dieser Anthologie enthält. Insgesamt definiert "2112" nämlich das Wort "Dystopie" in einem erbarmungslosen 70er-Jahre-Sinn, soll heißen: Die Hoffnung stirbt zuletzt ... aber sie stirbt. Außer bei Behrend, wo ein Kleinkrimineller Graffiti-Botschaften an seine Nachbarn hinterlässt, die eigentlich als Drohungen beabsichtigt sind - stattdessen aber eine ungeahnte Welle der Menschlichkeit auslösen.
100 Jahre nach dem Weltuntergang
Wer den Titel der Anthologie mit seiner offensichtlichen Anspielung auf die vermeintliche Maya-Prophezeiung kurios findet: "2112" kommt nicht zwei Jahre zu spät, sondern erschien seinerzeit pünktlich als E-Book - nun liegt der Band in leicht veränderter Form auch als Paperback vor. Zum Hintergrund: Die Anthologie ist als Mini-Shared-Universe angelegt, die Handlungszeit ist 100 Jahre nach dem Weltuntergang angesiedelt. Große Teile der Erde wurden überflutet, übriggeblieben sind - ganz wie in "1984" - drei verfeindete Machtblöcke: die eurasische New Politeia, das islamisierte Afrika und die offenbar matriarchalisch organisierte Union. Oberflächliche Unterschiede sollten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei allen dreien um diktatorische Regimes handelt, die ihre BürgerInnen in einem gnadenlosen Würgegriff halten. Alle drei praktizieren zudem Eugenik.
Dieser Prämisse ist ein Großteil der AutorInnen allerdings in die Falle gegangen: Sie versuchten einfach zuviel davon einzubauen. Bei 150 Seiten, die sich auf 17 Kurzgeschichten plus eine Reihe von Gedichten und anderen Kürzesttexten verteilen, bleibt nicht viel Raum für Exposition. Und dennoch verlassen die AutorInnen nur allzuoft die eigentliche Handlung für Erklärungen zum Worldbuilding, als wär's ein 500-Seiten-Roman. Und lassen damit ihre Geschichten im Stich.
Immerhin: die thematische Bandbreite ist groß. Für einen Lustknaben, der sich auf seinen Einsatz vorbereitet, ist hier ebenso Platz wie für einen Opa, der im Alten-KZ abgeliefert wird, einen Kampf gegen Rieseninsekten in der Kanalisation oder HIV-Ansteckungsparanoia, die zu einer rigiden Sexualgesetzgebung geführt hat. Ein paar Seiten Handlung mehr und ein paar Absätze Infodumps weniger, das würde all diesen Geschichten guttun. Und die zum Glück einzigen zwei Erzählungen hier, die sich wirklich um Maya-Esoterik drehen und so richtig überhaupt nicht zum Rest passen, würde ich aus der Anthologie streichen.
"Am Anfang"
Von Arno Endler kannte ich schon einiges, also war seine Sammlung "Am Anfang" eine logische Wahl aus dem aktuellen p.machinery-Angebot. Neben der titelgebenden Novelle sind hier acht Kurzgeschichten enthalten, die der deutsche Autor seit 2008 verfasst und für diese Sammlung teilweise neu überarbeitet hat. Die thematische Bandbreite ist groß, sie reicht von der nächsten Zukunft à la "Superstau", in dem ein Verkehrsleitsystem Skynet-artige Züge entwickelt, bis buchstäblich zum Ende der Zeit ("Das Ende", ein schöner melancholischer Ausklang der Anthologie).
Probleme hat mir hingegen die Titelgeschichte "Am Anfang" bereitet, in die Endler fast schon aberwitzig viel hineingestopft hat. Mal sehen, da hätten wir: Ein Energiefeld, das Tote entmaterialisieren lässt. Ein wachsendes Riesenkonstrukt auf dem Mars, das aus den verschwundenen Körpern besteht (und am Ende keine erkennbare Rolle für die Geschichte spielen wird). Einen Asteroidenschwarm mit Kollisionskurs auf die Erde. Aliens, die auf der Erde Früchte aussäen, die das menschliche Bewusstsein manipulieren. Einen Mann, der einen Außerirdischen im Keller gefangen hält. Und schließlich eine Botschaft, die vom Mond herunterzuleuchten scheint, ihr Wortlaut: "Glaubt ihr?" / "Liebt ihr?" / "Hofft ihr?"(Man beachte: Jedem Betrachter erscheint diese Botschaft in seiner Muttersprache im Kopf. Ihr Inhalt jedoch nennt explizit die christlichen Tugenden und ist damit keineswegs universal.)
Zerschellt am Riff, das Carl Sagan umschiffte
Eine ganze Menge Baumaterial jedenfalls. Und jedes dieser Motive hätte schon für sich eine Erzählung getragen. Alle zusammengenommen und noch dazu kombiniert mit einer Familiengeschichte voller personeller Querverbindungen und Perspektivenwechsel - das sprengt allerdings die Form. Und liest sich, als hätte Endler die Zeit, der Mut oder - was am wahrscheinlichsten ist - die Veröffentlichungsmöglichkeit gefehlt, um "Am Anfang" zu dem zu machen, was es eigentlich ist: ein 600-Seiten-Roman.
Aber. Vielleicht wird Endler auch mal froh darüber sein, dass "Am Anfang" hier in relativ unauffälliger Form erscheint. Außer er möchte als Autor für das stehen, worauf die Geschichte letztendlich leider hinausläuft: nämlich Esoterik der ärgerlichen Art, also eine Verbindung von Kitsch und Unlogik. Das Grundszenario mag an Carl Sagans Klassiker "Contact" erinnern. Doch diesen Aliens hier, die angeblich eine höhere Ebene des Geistes erklommen haben, kann man eigentlich nur die Botschaft "Denkt ihr!?" zurückschicken, so katastrophal unverantwortlich und manipulativ gehen sie vor. Aber alle finden's super. Dabei könnte Endler das Steuer noch relativ leicht herumreißen: Wenn er einen Schluss findet, der den Zweifel wesentlich stärker betont, anstatt seine Figuren glücksbeduselt in einem Eso-Poster voller Space-Blumen und springender Wale versandeln zu lassen, ließe sich diese Geschichte noch retten. In der vorliegenden Form aber ist sie ein Missgriff.
Weiters auf dem Menü
Deutlich besser ist beispielsweise "Return to Sender", eine Art Verknüpfung von Cyberpunk und "Schöne neue Welt", worin ein Mensch als Notfallpaket zusammen mit ein paar KIs in einen Kampfeinsatz geschickt wird. Oder "Elegie an eine einsame Insel mitten im All", in dem Marskolonisten den Kontakt zur Außenwelt verlieren. Sehr schön stimmungsvoll! "Das Prinzip Liebe" liest sich wie eine Hommage an Golden-Age-SF, während die First-Contact-Geschichte "Am Strand von Nueva Danmarka" mit ihrer Verknüpfung von Liebe, Tod und Fremdartigkeit thematisch an James Tiptree Jr. erinnert. Und "Feldversuch" schließlich bezieht Spannung aus der Frage, auf welche Art von Hightech-Experiment sich der Protagonist hier eigentlich vorbereitet, ehe das Ganze einen unerwartet persönlichen Twist vollzieht.
Zugegeben, manchmal würde ich mir ein wenig mehr sprachliche Präzision wünschen. Dann würde es weder einen sechseckigen Würfel noch eine Vollbehaarung aus Federn geben; und ich wüsste zu gerne, wie eine unterschwellige homoerotische Duftnote riecht. Dafür hat Endler ein gutes Gespür für Ideen. Durchaus klassische aus dem altbewährten Repertoire der Science Fiction - aber das ist ja letztlich auch die Kunst, die Genreliteratur ausmacht: Einen Weg, der schon tausend Mal gegangen wurde, beim tausendersten Mal doch wieder ein bisschen anders zu gehen.