"In der Wissenschaft gibt es ein Defizit an Darstellungsformen", sagt Kirsten Rüther. Sie experimentiert mit narrativen Elementen und will als Wissenschafterin nicht nur für Wissenschafter schreiben.

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STANDARD: Sie erforschen die afrikanische Geschichte und Kultur - was fasziniert Sie daran?

Rüther: Afrikanische Gesellschaften sind von der Geschichte nicht besonders bevorteilt worden: Die afrikanische Geschichte ist für einen kurzen, aber heftigen Zeitraum eng mit dem Kolonialismus verbunden. Es gibt viele furchtbare und nicht gerechtfertigte Klischees. Dieses Verständnis, dass es in Afrika immer zu Katastrophen kommt, wirft die Frage auf, warum diese Gesellschaften noch existieren. Für mich als Wissenschafterin ist es anregend zu fragen, was wir an diesen Gesellschaften als defizitär verstehen. Gibt es nicht andere Perspektiven, die wir dabei vergessen?

STANDARD: Ihre Arbeit umfasst ein unglaublich weites Themenfeld - von afrikanischen Familiengeschichten, Heilern oder der Rolle von Kleidung - wie hängt das für Sie zusammen?

Rüther: Was mich an den Afrikawissenschaften fasziniert, ist, dass man sich in einer großen Bandbreite an Themen bewegen kann. Es ist eine Wissenschaft, die offen ist, nicht überspezialisiert und bei der man nicht ständig an Grenzen stößt, über die man sich nicht hinwegbewegen darf.

STANDARD: Welche Rolle spielt es, wenn man als Europäerin Afrikawissenschafterin Ist?

Rüther: Wir können die Auseinandersetzung mit der Geschichte und Gesellschaft in Afrika dazu nutzen, unsere eigene Identität und Geschichte noch einmal neu in den Blick zu nehmen. Dann bleibt das Afrikanische auch nicht länger das Fremde. Für viele Menschen in afrikanischen Gesellschaften ist es schwierig, sich Gehör zu verschaffen, daher gibt es eine unglaubliche Bereitwilligkeit, über sich zu sprechen. Als Wissenschafter bergen wir auch das Versprechen, etwas über die Bemühungen dieser Menschen an andere Stellen vermitteln zu können. Das müssen wir aber sehr häufig enttäuschen, weil die Diskurse in Europa nach wie vor sehr stereotyp gesetzt sind.

STANDARD: Woran zeigt sich das?

Rüther: Es ist schade, dass der Kontinent vor allem in Kontext von Krisen und Gefahren für die eigene Gesellschaft gesehen wird - etwa Ebola, Krieg oder Migration. Die Frage ist immer: Wie können wir verhindern, dass Ebola oder afrikanische Flüchtlinge zu uns kommen? Man befasst sich aber nicht mit den tieferliegenden Dynamiken in den afrikanischen Gesellschaften.

STANDARD: Ist es überhaupt möglich, die afrikanische Gesellschaft mit westlich geprägten Begriffen zu fassen?

Rüther: Das ist ein ganz grundsätzliches Problem für die Afrikawissenschaften. Es gibt eine bestimmte Art und Weise, wie wir denken, was Stadt ist, Gesellschaft, Religion, Staat. Diese Konzepte sind aus der westlichen Geschichtserfahrung abgeleitet, sie gelten aber nicht als regional-westlich, sondern als universal. Unser westlicher Jargon lässt uns Phänomene in Afrika nicht adäquat erfassen, und wir stehen in den Afrikawissenschaften zunächst vor der Frage, wie wir uns dem Themengegenstand überhaupt annähern, wie wir ihn beschreiben können.

STANDARD: Wie wichtig ist es dabei, vor Ort zu sein?

Rüther: Das ist extrem wichtig - ich selbst war und bin sehr oft in Südafrika. Sich lange vor Ort aufzuhalten schafft Vertrautheit, die für das Forschen ganz wichtig ist. Forschen passiert nicht nur im Archiv oder indem man Interviews führt. Das Einlassen auf den Forschungsgegenstand und auf den Alltag vor Ort ist zentral.

STANDARD: Wie gehen Sie mit der Distanz um, nachdem Sie jetzt in Wien sind?

Rüther: Man kann versuchen, aus der Distanz andere Perspektiven zu entwickeln. Die Zusammenarbeit mit Kollegen in afrikanischen Ländern ist dabei sehr wichtig. Momentan arbeite ich an einer Familiengeschichte, die das 19. und 20. Jahrhundert umfasst und sich in Deutschland, Afrika und Indien abspielt. Das geschieht gemeinsam mit einem südafrikanischen Kollegen, wo wir auch eine Nachfahrin der Familie miteinbeziehen - das empfinde ich als sehr produktiv, nicht nur über Leute, sondern mit ihnen zu forschen.

STANDARD: Wenn man Ihre Arbeiten liest, entsteht der Eindruck, dass es Ihnen neben der präzisen wissenschaftlichen Arbeit ein Anliegen ist, Geschichten zu erzählen - warum?

Rüther: Geschichte hat viel mit Geschichten zu tun. Wenn man mit der Geschichte auch denjenigen einen Teil ihrer Geschichte zurückgeben will, deren Geschichte man bearbeitet, ist es wichtig, zu Formen der Darstellung zu finden, die jedem zugänglich sind. Die Geschichte hat im Vergleich zu vielen Sozialwissenschaften ein geringes Vokabular an theoretischen Begriffen - das wird ihr oft vorgeworfen, ermöglicht ihr aber, nahe an der Alltagssprache zu schreiben. Ich experimentiere im Moment mit narrativen Elementen in der wissenschaftlichen Sprache, weil es mir ein großes Anliegen ist, als Wissenschafterin nicht nur Texte zu produzieren, die nur Wissenschafter lesen können.

STANDARD: Stoßen Sie in diesem Experiment nicht an die Grenzen der wissenschaftlichen Publikationskultur?

Rüther: Es gibt ein großes Defizit in der Vielfalt an Darstellungsformen in der Wissenschaft. Es ist notwendig, in den wichtigen Journals zu publizieren, das geht aber damit einher, dass man vom Mainstream einverleibt wird. Es wäre wichtig, im Laufe einer Studienausbildung auch zu lernen, wie man komplexe wissenschaftliche Darstellungen popularisieren kann. Das geschieht kaum, und dadurch wird die Reichweite von Wissenschaft sehr eingeschränkt. (Tanja Traxler, DER STANDARD, 3.12.2014)