"An uns Erwachsenen liegt es, die Gegenwart der Kinder gut zu gestalten", sagt Klaus Vavrik, Kinderarzt und Kinderrechtsexperte.

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Das geflügelte Wort "Kinder sind unsere Zukunft" würde Klaus Vavrik, Kinderarzt und Kinderrechtsexperte, gerne umschreiben: "Kinder sind nicht unsere Zukunft, sie haben ihre ganz persönliche, eigenständige Zukunft", sagt der Präsident der Österreichischen Liga für Kindergesundheit. "An uns Erwachsenen liegt es, die Gegenwart der Kinder gut zu gestalten." Denn: "So wie wir ihre Gegenwart gestalten, werden sie in ihre Zukunft gehen."

Kindergesundheit ernst nehmen

Was Kinder für eine gute Gegenwart und Zukunft brauchen, beschreibt die UN-Kinderrechtskonvention in 54 Artikeln. Die Konvention wurde zwar von Österreich ratifiziert, ist aber noch nicht gültiges Recht. Erst sechs der 54 Artikel wurden in die Verfassung übernommen. Auch Artikel 24, das Recht auf höchstmögliche Gesundheit, wurde bislang ausgespart.

Vavrik appelliert, die Kinderrechtskonvention ernst zu nehmen: "Wenn wir das drittreichste Land der EU sind und die dritthöchsten Gesundheitsausgaben haben, dann sollten die Kinder davon auch etwas spüren." Die Kinderrechtskonvention müsse in Österreich komplett in die Verfassung übernommen werden.

Die Liga für Kindergesundheit, der interdisziplinäre Dachverband aller mit Kinder- und Jugendgesundheit befassten Einrichtungen und Einzelpersonen, verfasste 2010 einen ersten Bericht über die Lage der Kinder- und Jugendgesundheit. An den wesentlichen Kritikpunkten - fehlende Therapieplätze, hoher Selbstbehalt bei Therapiekosten und fragmentarische Gesundheitsdaten - hat sich seither wenig geändert.

Viele Baustellen

Die Bereitschaft der Politik, die Situation der Kinder und Jugendlichen zu verbessern, ist jedoch, aufgerüttelt durch schlechte Platzierungen in Gesundheitsrankings, gestiegen. Österreichs Jugendliche sind an der Spitze der OECD-Statistik bei Nikotin- und Alkoholgebrauch. Kinder und Jugendliche leiden unter Fehlernährung und Bewegungsmangel. So können 30 Prozent der Kindergartenkinder keinen Purzelbaum machen. Die Spätfolgen: Diabetes und Adipositas steigen bei Kindern und Jugendlichen.

Österreichs Babys kommen zu früh. Bei den Frühgeburten ist Österreich mit 11,1 Prozent europäischer Spitzenreiter. Ein wesentlicher Grund ist die Reproduktionsmedizin, die mit dem Einsetzen mehrerer Eizellen zu risikoreichen Mehrlingsschwangerschaften führt. 7,1 Prozent der Babys kommen mit weniger als 2500 Gramm Gewicht zur Welt, im EU-Durchschnitt sind es hingegen 6,4 Prozent. Die Liga fordert nun, im neuen Fortpflanzungsmedizingesetz die Implantation von nur einem Embryo festzuschreiben.

Folgen fürs Leben

Österreichische Kinder leiden unter Armut und Gewalt. Die Hälfte der Eltern bekennt sich zu Körperstrafen. Entwicklungsstörungen und spätere psychische Probleme sind damit vorprogrammiert. Stresserkrankungen Erwachsener wie Bluthochdruck, Burn-out, Panikattacken können ihre Ursache in der Kindheit haben.

Klaus Vavrik: "Wir wissen aus der Neurobiologie, dass Stressregulation eines der ersten Dinge ist, die Säuglinge lernen müssen." Babys reagierten zu Beginn ihres Lebens oft von Natur aus hochaufgeregt und müssten lernen, sich herunterzuregulieren, erläutert der Kinderarzt. "Das lernen sie zusammen mit erwachsenen Menschen, die sie trösten und pflegen, ihnen eine sichere Bindung geben." Überforderte Eltern und überlastete Krippenbetreuerinnen können das nicht. Die Folge sind verhaltensauffällige Kinder mit fehlender Sozialkompetenz, die es im Leben schwer haben werden.

Kinder zu gesunden Erwachsenen zu machen sei eine große Herausforderung, sagt Gesundheitsministerin Sabine Oberhauser (SPÖ): "Kinder brauchen die entsprechenden Rahmenbedingungen, um gut aufwachsen zu können." Die möchte die Ministerin aufbauend auf der 2011 beschlossene Kinder- und Jugendgesundheitsstrategie schaffen.

Parlamentarische Kinderkommission

An der Umsetzung der Strategie werde konsequent gearbeitet, versichert Oberhauser. Zur Kontrolle wurde eigens ein Gremium eingerichtet, das Intersektorale Komitee zur Umsetzung der Kinder- und Jugendgesundheitsstrategie. Ein wesentliches Vorsorgeprojekt, die Erweiterung des vor 40 Jahren eingeführten Mutter-Kind-Passes ins Schul- und Jugendalter, wird im Ministerium aber noch diskutiert.

Für eine kindorientierte "Health-in-all-Policy" brauchte man ein Gremium auf parlamentarischer Ebene, fordert Vavrik. Eine ständige parlamentarische Kinderkommission, besetzt mit Abgeordneten aller Fraktionen und Fachleuten, könnte den permanenten Austausch zwischen Politik und Experten und damit auch die Betrachtung von Kindergesundheit als politische Querschnittsthematik garantieren.

"Alles nur Lippenbekenntnisse", verweist Rudolf Püspök vom Verein Politische Kindermedizin auf gravierende Versorgungslücken. 70.000 Therapieplätze fehlen in Österreich, errechnete Püspök. Vavrik spricht von 60.000 bis 80.000. Die Politische Kindermedizin, deren Anliegen gerechte Ressourcenverteilung, optimale medizinische Versorgung, Wahrung der Kinderrechte und kostenloser Zugang zu notwendigen Therapien sind, hat eine Versorgungslandkarte Österreichs gezeichnet: Nur Vorarlberg komme an die guten deutschen Werte heran, sagt Püspök.

Fehlende Therapieplätze

Fehlende Plätze für Logopädie, Ergotherapie, Physiotherapie und Psychotherapie bedeuten, dass Eltern und Kinder warten. In Einzelfällen bis zu eineinhalb Jahre. Püspök: "Man lässt diese Kinder im Regen stehen." Dabei gehe es oft nicht um aufwändige Therapien: "Bei manchen Entwicklungsstörungen kann man schon mit zehn Therapieeinheiten helfen."

Die Versorgungslücke sei nicht so groß, entgegnet Peter McDonald, seit eineinhalb Monaten Verbandsvorsitzender des Hauptverbands der Sozialversicherungsträger: "Die Annahme, dass 80.000 Therapieplätze fehlen, basiert auf unvollständigen Daten. In Wirklichkeit ist die Versorgungslage wesentlich besser." Genaue Daten waren vom Hauptverband nicht zu erfahren. Man bemühe sich aber, die Lücken zu verkleinern. Aktuell in Niederösterreich: Mit einem neuen Kassenvertrag schafft die Gebietskrankenkasse 36 Planstellen für Ergotherapie.

Selbstbehalt kontraproduktiv

Gibt es zu wenig Kassenangebot, müssen die Familien Wahltherapien bezahlen. 30 bis 60 Euro pro Stunde beträgt der Selbstbehalt. Vavrik hält das Steuerungsinstrument Selbstbehalt in der Kindergesundheit für kontraproduktiv. Sozial schwachen Familien würde damit der Zugang zu therapeutischen Leistungen verwehrt.

Im Ministerium schiebt man den Ball den Sozialversicherungen und Ländern zu, dort liege die Zuständigkeit. Im Hauptverband verweist man auf das Kassenangebot: "Dort gibt es keinen Selbstbehalt." Da beißt sich die Katze wohl in den Schwanz: Wenn es am Kassenangebot mangelt, muss man zur Wahltherapie.

Im Bereich der Kinder- und Jugendgesundheit gelte es viele Felder zu bearbeiten, "das geht nicht alles gleichzeitig", ersucht Peter McDonald um Geduld. 2015 werde man die kostenlosen Zahnspangen fixieren, Reha-Stätten für Kinder schaffen und mit "Frühe Hilfen" ein neues Angebot starten.

Hilfe für junge Eltern

Wie in Vorarlberg, wo es diese interdisziplinäre Einrichtung bereits seit fünf Jahren gibt, sollen bald bundesweit werdende und junge Eltern in schwierigen Situationen unterstützt werden. Begleitende Hilfe bekommen Eltern, die gesundheitliche oder finanzielle Probleme haben oder schlicht überfordert sind.

Schreibabys, überhöhte Erwartungshaltungen gegenüber der Mutterschaft und Babyblues sind häufige Gründe für Krisen. Die Vorarlberger Erfahrungen sollen in Standards einfließen, welche die Gesundheit Österreich mit Vorsorgemitteln des Bundes erarbeitet. Frühe Hilfen werden 2015 gestartet; ob bundesweit, steht noch nicht fest.

So wie wir Erwachsene die Gegenwart der Kinder gestalten, werden sie in die Zukunft gehen. (Jutta Berger, DER STANDARD, 10.12.2014)