Die sichtbare Differenz interessiert und regt in den USA weit weniger auf als in Europa. Gabriele Dietze sagt: "Verbote von Kleidungsstücken wären in Amerika nicht vorstellbar."

Foto: Robert Newald

Dietze: "Ich finde es unfassbar, dass man sich auf Schulmädchen mit Kopftüchern konzentriert."

Foto: privat

STANDARD: In Deutschland gibt es in einigen Bundesländern ein Kopftuchverbot an Schulen, wie es auch in Österreich kürzlich gefordert wurde. Warum hat sich das Verbot in Deutschland teilweise schon vor einem Jahrzehnt durchsetzen lassen?

Gabriele Dietze: Ein Grund ist, dass sich um die Wiedervereinigung herum insbesondere im Osten eine Bewegung gebildet hat, die die "deutsche Identität" in dieser lange geteilten Nation wieder zurückerobern wollte. In dieser Zeit haben sich Antagonismen wie deutsch – ausländisch oder eigen – fremd besser entwickeln können als etwa in Österreich, das die Veränderungen der Ost-West-Achse in einem weniger aufgewühlten Zustand erlebte.

STANDARD: Kopftücher werden immer wieder als Zeichen von schlechter Integration oder sogenannter "Integrationsunwilligkeit" gedeutet. Wie sind solche Begriff aus der Perspektive der Kulturwissenschaft zu bewerten?

Dietze: Von rechtskonservativen Kreisen wird das Tragen von Kopftüchern so gedeutet, dass man gewillt ist, in einer Parallelgesellschaft zu leben, und das Zeichen des Andersseins tragen will. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ist das kein gerechtfertigter Vorwurf. Das Tragen des Kopftuches kann unterschiedlichste Gründe haben, und es gibt mittlerweile zahlreiche Studien dazu, warum – vor allem junge Frauen – Kopftücher tragen. Ein häufiges Ergebnis ist, dass dies freiwillige Akte sind, die in den Familien nicht gefordert wurden.

Das Argument der Integrationsunwilligkeit haben wir in Deutschland auch. Im Zuge der vielen Anti-Pegida-Diskussionen fand ich spannend, dass aus verschiedensten Ecken die Frage auftauchte: Was heißt denn Integration? Warum finden wir nicht das Recht zur Ungleichheit interessanter als die Frage, wie gleich wir uns schnitzen können? Die Herausforderungen des Integrationsbegriffs wären politisch wichtiger als das Beharren auf einem Integrationsverständnis, das in Wahrheit eine Aufforderung zur spurlosen Assimilation ist.

STANDARD: Warum ist das Kopftuch im Zusammenhang mit Migration ein derartiger Dauerbrenner?

Dietze: Es hat mit seiner Sichtbarkeit zu tun, oder anders gesagt: mit Sichtbarkeitsregimen. Es stehen sich starke Bekleidung und starke Entkleidung gegenüber. Die sexuelle Selbstbestimmung wird immer wieder als wichtigste Position des Abendlandes genannt, also auch das Recht, seinen Körper zeigen zu dürfen. In dieser Gegenüberstellung ist beides zum Symbol geworden: Das Kopftuch zeigt ein Geschlechterregime, das Frauen vor männlichen Blicken schützt und bedeckt und damit gleichzeitig zu Protokoll zu geben scheint, die Frauen wären unterdrückt. Und die westliche Frauenemanzipation wird als Ergebnis der abendländischen Aufklärung verstanden. Wenn man sich aber auf dieses Argument einlässt, behauptet man gleichzeitig, die westlichen Frauen seien schon emanzipiert und es gäbe nichts mehr nachzuholen. "Die anderen sind nicht emanzipiert, und wir sind es" – diese Konfrontation ist eine Möglichkeit, dem Feminismus die Legitimität zu entziehen, indem man die Emanzipation der westlichen Frau für bereits vollendet erklärt.

STANDARD: Was finden Sie an herrschenden Kopftuchdebatten besonders schwierig?

Dietze: Warum geht man überhaupt auf die "Opfer" los? Warum sind die, denen man ansieht, dass sie aus muslimischen Familien kommen, der Gegenstand der Aufregung? Man könnte sich ja über Familienväter unterhalten oder Imame. Ich finde es unfassbar, dass man sich auf Schulmädchen mit Kopftüchern konzentriert. Es zeugt von einem völligen Mangel an Souveränität westlicher Gesellschaften sich selbst gegenüber, sich von so einem kleinen Symbol religiöser und kultureller Bindung bedroht zu fühlen.

STANDARD: Sind diese Diskussionen über sichtbare Differenzen wie das Kopftuch ein europäisches Phänomen?

Dietze: In den USA ist es strukturell völlig anders. Die ersten weißen Einwanderer waren in den USA religiöse Dissidenten. Religionsfreiheit ist daher ganz zentral, und sichtbare Differenz ist kein großes Problem. Das heißt aber nicht, dass in Zusammenhang mit bestimmten Konflikten wie dem Irakkrieg, Afghanistan oder 9/11 sichtbar muslimische Menschen keine Diskriminierungen erfahren hätten. Das Sentiment der Bevölkerung richtet sich nicht nach der Verfassung. Aber dass das Kopftuch oder andere Bekleidungsstücke im öffentlichen Sektor verboten werden könnten, das ist in den USA jenseits der Vorstellungskraft – es würde nicht in ihre Selbstwahrnehmung einer liberalen Gesellschaft passen. Das heißt aber nicht, dass die Auffassung, man repräsentiere das christliche Abendland und müsse alle Frauen in der Welt befreien, keine Rolle spielt. Diese Vorstellung wird in den USA aber nicht über Kleiderordnungen abgehandelt. Doch wir in Europa haben diesen Tick für Kleiderordnung.

STANDARD: Kopftücher passen nicht zum "europäischen Wertekanon", lautet ein Argument.

Dietze: Begriffe wie "Wertekanon" oder "Leitkultur" haben sich als polemische Kampfbegriffe entwickelt. Unsere Gesellschaften sind grundsätzlich vielfältig – gerade Österreich in der habsburgischen Tradition – und haben die Freiheitsrechte wie die Religionsfreiheit in der Verfassung festgeschrieben. Sie haben sich ja gar nie als einheitlich konzipiert.

STANDARD: "Liberalismus" wird immer wieder als Titel eines gemeinsamen Wertekanons genannt, zu dem aber Kopftücher nicht passen würden.

Dietze: Aber gerade der Liberalismus müsste Vielfalt ermöglichen. Österreich war eines der wenigen europäischen Ländern, die sich genau darauf berufen haben: Bei uns wird es kein Kopftuchverbot geben, weil wir die Religionsfreiheit in der Verfassung haben. Die gesetzgeberische Haltung und der gesellschaftliche Kontext war also genau andersherum organisiert: Weil wir ein liberales Land sind, dürfen wir Unterschiede nicht sanktionieren.

STANDARD: Rechte Populisten beziehen sich aktuell besonders gern auf die europäische Aufklärung. Was ist davon zu halten?

Dietze: Auch die Aufklärung wird zu einem Kampfbegriff und wird im Gegensatz dazu interpretiert, wie sie gemeint war, nämlich als eine Öffnung der Gesellschaft, als Möglichkeit der Individualisierung gegenüber einer feudalen Unterdrückung. Heute wird die Aufklärung bemüht, eine autochthone Bevölkerung zu beschwören. Das ist eine missbräuchliche Inanspruchnahme der Aufklärung, die im Moment mit großer Überzeugung vorgetragen wird und mit Vokabeln wie "Christliches Abendland" besetzt wird. Dabei war die Aufklärung zumindest in den protestantischen Ländern eine säkulare Bewegung, bei der es auch um eine Abschüttelung von Rom und der katholischen Kirche ging. Dass jetzt das Abendland mit dem Christentum verschmolzen wird – das ist auch eine neuere Erfindung.

STANDARD: Wann haben diese Um- und Neudeutungen begonnen?

Dietze: Da gibt es unterschiedliche Quellen. Die berühmteste ist 9/11. Außerdem gab es die Zunahme der muslimischen Einwanderung, die in den europäischen Ländern völlig verschieden ist. In Deutschland türkisch, in Frankreich nordafrikanisch, in Österreich kommen die Muslime eher aus dem südlichen Balkan. Die Einwanderung geschieht also aus völlig verschiedenen postkolonialen Situationen. Und schließlich haben sich die Nahostkrisen, die sogenannte Terrorangst und die Migration in ein Bedrohungsszenario zusammengeschoben. Aufgewachsen sind wir mit einem völlig anderen Bedrohungsszenario, dem Ost-West-Konflikt, der sich ab 1989 aufgelöst hat. In dem Moment ist dieser andere Großkonflikt als identitätsschöpfender Widerspruch ins Bewusstsein gekommen. Mitunter auch, weil er von rechtspopulistischen Kreisen dorthin geschoben wurde.

STANDARD: Sie haben der "Kritik des Okzidentalismus" ein ganzes Buch gewidmet. Was bedeutet Okzidentalismus?

Dietze: Es bedeutet "Abendländischkeit", die im Moment so stark bemüht wird. Sie geht von der Vorstellung aus, dass wir uns in einem Konflikt mit dem sogenannten Orient befinden. Die weiße europäische Selbstvergewisserung baut sich im Moment stark an dem orientalischen anderen auf. Für dieses andere gibt es zwei zentrale Vorstellungen: Da gibt es ein Patriachat, in dem der Mann, der Vater, alles bestimmt. Und dann gibt es die nicht nur unterdrückte, sondern auch verschleierte Frau – die nicht zum Sehen gegebene Frau. Diese Vorstellungen sind für die Gegenüberstellung Fortschritt versus Rückständigkeit zentral.

Ein Denkansatz wie Okzidentalismuskritik soll zeigen, dass westliche Gesellschaften im Moment in der Orient/Okzident-Achse ein Selbstverständnis kultureller Überlegenheit konstruieren. Als Genderforscherin ist es mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass diese Überlegenheitskonstruktion vorzugsweise mit Geschlechterordnungen und Sexualpolitiken argumentiert. Gerade für Feministinnen wäre es wichtig darauf zu achten, dass "ihre" Emanzipation nicht vorzeitig für vollendet erklärt wird und sie sich nicht dafür funktionalisieren lassen, fremdenfeindliche Ressentiments auf dem Rücken von Schulmädchen auszutragen. (Beate Hausbichler, DER STANDARD, 11.2.2015)