Die emotionale Intelligenz sollte sowohl zu Hause als auch in der Schule gefördert werden, ist Kurt Gallé überzeugt.

Foto: Fischer, Graz

Kurt Gallé: Erziehungsalarm. Weckruf für Eltern und
Bildungsverantwortliche

144 Seiten, 18,90 Euro
Verlag Braumüller
ISBN: 978-3-9910014-4-7


Foto: Verlag braumüller

Der Grazer Erziehungswissenschaftler und ehemalige Lehrer Kurt Gallé hat ein Pamphlet mit dem Titel "Erziehungsalarm" verfasst, in dem er mit der heutigen Eltern- und Jugendgeneration hart ins Gericht geht. Ratsuchende werden hier keine Patentrezepte in Erziehungsfragen finden, dafür eine gehörige Portion Diskussionsstoff.

derStandard.at: Ihre Streitschrift trägt den Titel "Erziehungsalarm". Was finden Sie so alarmierend?

Kurt Gallé: Es gibt zwei Tendenzen in unserer Gesellschaft, die mich nachdenklich machen. Einerseits die Defizite im Schulsystem – man denke nur an die mangelhafte Umsetzung der Neuen Mittelschule. Wenn die schulische Bildung in einem Staat, in dem die Kraft im Intellektuellen liegen sollte, weil es kaum Rohstoffe gibt, versagt, gerät der Wohlstand ins Wanken. Wo andererseits die Erziehung, auch im Sinne von Herzensbildung, versagt, da bricht das soziale Gefüge, das gesellschaftliche Miteinander auseinander.

Zweifellos, es funktioniert vieles sehr gut. Wäre unsere Gesellschaft die totale Katastrophe, dann hätte ich auch dieses Buch nicht mehr schreiben müssen. Doch wann ist der richtige Zeitpunkt, um Alarm zu schlagen? Ich vergleiche das mit einem Feuer: Wenn alles abgebrannt ist, brauche ich auch keinen Alarm mehr. Ich wünsche mir, dass mein Pamphlet, das zugegeben etwas überspitzt pessimistisch formuliert ist, zu Widerspruch und Diskussionen über Erziehung anregt.

derStandard.at: Was verstehen Sie unter Herzensbildung?

Gallé: Mein Großvater hat gesagt: "Es gibt zwei Dinge im Leben, die wichtig sind: ein gesunder Hausverstand und Herzensbildung." Da ist schon etwas Wahres dran. Wir wissen beispielsweise, dass es so etwas wie emotionale Intelligenz gibt, die gefördert werden kann, sowohl von Eltern als auch von Lehrern.

derStandard.at: Sie bezeichnen den gegenwärtigen Erziehungsstil mancher Eltern als rat-, mut- und hilflos. Woran liegt das?

Gallé: Es war ein wichtiger Schritt in der Pädagogik, den autoritären Erziehungsstil zu überwinden. Heute sind wir aber zunehmend mit einem Erziehungsstil konfrontiert, den ich als "irregulär" bezeichne. Eine Erziehung ohne Regeln. Ich erlebe überforderte Eltern, die sagen: "Was ist bloß mit unseren Kindern los? Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll." Ich kann aber Zwölfjährige nicht für erwachsen erklären, sondern muss ihnen Grenzen setzen. Eltern können klare Sanktionen setzen, die keinen bleibenden Schaden bei ihren Kindern hinterlassen werden. Beispielsweise eine temporär verhängte Smartphone-Abstinenz.

derStandard.at: Sie sprechen von der "Generation D", die durch Desinteresse, Destruktion, Desorientiertheit und Delinquenz gekennzeichnet ist. Warum dieser Kulturpessimismus?

Gallé: Unter diesem Begriff subsumiere ich jene Heranwachsenden, die ihren Egozentrismus so weit fassen, dass er zur Unfreiheit des anderen wird. Es ist eine zunehmende "Vollkaskomentalität" spürbar nach dem Grundsatz "Egal, was ich mache, mir kann eh nichts passieren". Laut einer Studie der Arbeiterkammer gibt es in Österreich 75.000 vorzeitige Bildungsabbrecher. Wir brauchen Maßnahmen, mit denen diesen Jugendlichen ermöglicht wird, einen Schulabschluss fertig zu machen oder einen Beruf zu erlernen. Nur wenn wir ihnen eine Perspektive bieten, haben diese Jugendlichen eine Chance in der Gesellschaft.

derStandard.at: Was wären probate Maßnahmen?

Gallé: Patentrezept habe ich natürlich keines, aber einige Zutaten. Es gibt vermeintlich antiquierte Tugenden wie Verantwortungsgefühl und Respekt, aber auch so etwas wie Pünktlichkeit zählt dazu. Die sollten wir wiederbeleben. In der Schule bräuchten wir außerdem Fächer wie Gesellschafts- und Europakunde, mit denen demokratische Werte und vor allem auch Empathie gefördert werden. Letztendlich geht es darum: Schule sollte so etwas wie Ethos vermitteln.

Zudem wäre es wichtig in "Elternbildung" zu investieren. Es wäre durchaus auch denkbar, Erziehungsseminare und Workshops für Eltern verpflichtend einzuführen. Ziel sollte es sein, Eltern dazu zu befähigen, einen Schutzschirm in Richtung Fürsorge und Verantwortung für ihre Kinder zu öffnen.

derStandard.at: Andere Autoren wie der Ökonom Christian Scholz zeichnen ein positiveres Bild von der gegenwärtigen Jugend. Die Generation Z, wie er sie nennt, fordert eine klare Trennung von Beruf und Familie und setzt sich für Nachhaltigkeit, Klimaschutz und soziale Fairness ein ...

Gallé: Das ist im Prinzip das, was diverse Jugendstudien erhoben haben. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass es sich dabei um die Wünsche von jungen Menschen handelt. Die Lebenswirklichkeit sieht oft anders aus, und wir wissen, dass es nicht nur Gewinner gibt. Es heißt immer, wir müssen die Kinder auf die Zukunft vorbereiten. Mein Ansatz ist, dass sich Kinder zuerst in der Gegenwart zurechtfinden müssen. Das heißt, wir sollten an einem Mehr an empathischen, sozialen Beziehungen arbeiten, denn eine Gesellschaft ohne Solidarität ist keine Gesellschaft mehr. (Günther Brandstetter, derStandard.at, 12.3.2015)