Nur 150 Kilometer voneinander entfernt und doch so unterschiedlich: die Landschaften rund um Vinci und Caprese, zwei Dörfer in der Toskana, sind so verschieden, wie die zwei großen Meister der italienischen Renaissance es waren. Leonardo da Vinci und Michelangelo Buonarroti wurden hier geboren. Zwei Genies, die aus derselben Gegend stammten, die zeitlich und kulturell nahe beieinander lebten und die einander nicht sehr mochten.

Vinci - der Geburtsort von Leonardo da Vinci
Foto: Museo Leonardiano Vinci

Leonardo, 23 Jahre älter, war ein Universalgelehrter, der sich der Malerei, Technik, Anatomie und Architektur gewidmet hat. Seine Bilder sprechen eine sanfte Sprache, die die Essenz von Mensch und Kosmos in Einklang bringt. Seine Erfindungen sind der Versuch, das Mysterium der Schöpfung mit Verstand zu erforschen.

Die Malerei und Skulpturen von Michelangelo sind Ausdruck uriger Kräfte, unbändiger Energien des Menschen und der Natur. Sie stellen Fragen zum Ursprung aller Dinge und der Beziehung zwischen Mensch und Gott.

Zwei Städte, zwei Historien

Beide sind Kinder des Frühlings: Leonardo wurde am 15. April 1452 in Anchiano bei Vinci geboren, 35 Kilometer von Florenz entfernt; Michelangelo am 6. März 1475 in Caprese, 20 Kilometer von Arezzo, im Casentino, einer weniger bekannten Gegend der Toskana. Zwei Städtchen, zwei Historien: getrennt durch die die Welfen und Waiblinger, die damals um die Macht ringenden Parteien. Die Landschaften spiegeln diesen Gegensatz bis heute wider: mild die Umgebung von Vinci; herb, unruhig jene um Caprese.

Das Leonardo da Vinci-Museum in Vinci
Foto: Museo Leonardiano Vinci

Leonardo war ein uneheliches Kind, er kämpfte mit finanziellen Schwierigkeiten, beim Tod des Vaters wurde er vom Erbe ausgeschlossen. Michelangelo stammte aus einer adeligen florentinischen Familie, die zwar auch in Geldnöten war, er selbst musste aber nie um seinen sozialen Status ringen. Er wurde eher zufällig in Caprese geboren, da der Vater dort als hoher Beamter weilte. Er starb in Rom, aber sein Leichnam wurde gestohlen und nach Florenz gebracht. Hier ruht er in einem pompösen Grab in Santa Croce.

Orte der Entfernung

Leonardo starb mit 67 in Frankreich, wo er im Schloss von Amboise, hochverehrt von König Franz I., arbeitete und die letzten Lebensjahre verbrachte. Für beide waren ihre Geburtsstätten Orte der Entfernung, von denen sie für immer weggingen.

In Leonardos Geburtshaus
Foto: Museo Leonardiano Vinci

Der Weg nach Vinci durch die Industriegebiete rund um Florenz ist nicht besonders anmutig, aber je näher man dem Ort kommt, desto stärker erkennt man einen Bezug zum Künstler: in den Farben und dem harmonischen Zusammenspiel der Olivenbäume mit den Zypressen und in der weiten Perspektive auf die Hügel.

In Vinci ist seit 1953 ein kleines Museum untergebracht. In diesem Haus, vom Maler Mimmo Paladino – einer führenden Persönlichkeit der italienischen Transavantgarde – gestaltet, sind unzählige Reproduktionen der Erfindungen von Leonardo ausgestellt. Jedes Jahr kommen an die 200.000 Besucher hierher.

Schwache Spur, starke Aura

Vom Museum bis zum Geburtshaus Leonardos ist es ein kurzer Weg: Olivenbaumhaine, wohin das Auge reicht, keine ästhetische Störung, keine hässlichen Gebäude, kein Klotz, kaum ein Auto. Man kommt dorthin in dem Wissen, dass man keine großen Spuren des Genies finden wird. Es sind kahle Räume, von denen aber eine starke Aura ausgeht.

Michelangelos Geburtshaus in Caprese
Foto: Flaminia Bussotti

Überraschend bescheiden gestaltet ist das Geburtshaus von Michelangelo: ein Ensemble aus drei Gebäuden, das man besichtigen kann. Grün und steil ist der Weg zu dem Haus. Man weiß ganz genau, in welchem Zimmer er geboren wurde. Ein Triptychon mit Madonna und Heiligen aus dem 15. Jahrhundert von Giuliano Amidei markiert den exakten Ort.

Auch in Caprese ist ein Museum untergebracht. Rund 20.000 Besucher kommen jedes Jahr. Es ist liebevoll gestaltet, umrahmt von Bauten aus Stein aus Michelangelos Zeit. Caprese ist ein anmutiger, aber kein fröhlicher Ort, eher düster – und damit ganz anders als Leonardos Vinci. (Flaminia Bussotti, DER STANDARD, 28.3.2015)