Einen wichtigen Hinweis geben Ärzten die Kratzspuren: "Patienten mit Neurodermitis kratzen sich oft wund, während diejenigen mit Nesselsucht meist nur mit den Fingerkuppen kratzen", sagt Schmid-Grendelmeier von der Uniklinik Zürich.

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Es sei schlimmer als alles, was sie jemals erdulden musste, erzählt die 29-Jährige dem Dermatologen an der Uniklinik in Zürich. Es jucke seit einem Jahr so fürchterlich, es sei wirklich zum Aus-der-Haut-Fahren. Der Arzt habe ihr hoch dosiert juckreizstillende Antihistaminika verschrieben, die hätten aber überhaupt nicht geholfen. "Die Frau war völlig verzweifelt", erzählt Peter Schmid-Grendelmeier. "Patienten mit chronischem Juckreiz leiden massiv darunter. Mit der richtigen Diagnose können wir aber vielen helfen."

Akuten Juckreiz hat vermutlich jeder schon einmal gespürt – sei es durch Mückenstiche oder weil man durch Brennnesseln gestapft ist. Doch jeden siebten Menschen juckt es chronisch, das heißt länger als sechs Wochen. "Die Abklärung ist zeitaufwendig und braucht viel Erfahrung", sagt Paul Bigliardi, Dermatologe und Juckreizforscher in Singapur. "Jeder kleinste Hinweis, den der Patient erzählt, kann essenziell für die Diagnose sein."

Manchmal helfe nur hartnäckiges Nachfragen, sagt Marcus Maurer, Dermatologe an der Uniklinik Charité in Berlin. So wie bei der 45-jährigen Frau, die es "aus heiterem Himmel" anfallsartig überall juckt. Maurer bohrt so lange nach, bis er den Auslöser findet: Die Attacken kommen immer, wenn die Frau aus der Dusche tritt. Sie leidet unter einem sogenannten aquagenen Pruritus, der durch Wasser verursacht wird. "Das ist gar nicht so selten", sagt Maurer, "das Immunsystem interagiert mit den Nervenzellen in einer Weise, die wir noch nicht verstehen."

Von Forschung vernachlässigt

Innerhalb von Minuten stellte er die Diagnose bei einem älteren Herrn. "Als ich einmal mit dem Holzspatel über seinen Arm strich, stäubten Hautschuppen auf wie Schneeflocken im Winter." Der Mann hat Xerodermie, also trockene Haut. "Die Haut wird dünner, und die Nervenenden liegen quasi frei", erklärt Maurer. "Dann reiben die Hautzellen wie Backsteine auf den Nerven, was Juckreiz auslöst." Insbesondere ältere Männer leiden unter dieser häufigen Juckreizform. "Viele sind zu bequem, sich einzucremen, oder wissen nicht, wie wichtig das ist."

Seit Maurer vor einigen Jahren mit seinem Team eine Juckreiz-Sprechstunde eröffnete, stellen sich jede Woche Dutzende Patienten vor. "Juckreiz haben früher viele Forscher nicht ernst genommen. – Sie meinten, es gäbe ja weit wichtigere Probleme, etwa chronische Schmerzen. Deshalb hinken wir mit der Forschung so hinterher."

Kratzspuren als Informanten

Mit steigender Lebenserwartung leiden immer mehr Menschen unter chronischem Juckreiz. Neben trockener Haut können einige typische "Alters-Krankheiten" Juckreiz auslösen: Diabetes, Tumoren und Leber- oder Nierenschwäche. "Bei älteren Patienten ist es oft eine Kombination mehrerer Probleme", sagt Bigliardi.

Einen wichtigen Hinweis geben Ärzten die Kratzspuren. "Patienten mit Neurodermitis kratzen sich oft wund, während diejenigen mit Nesselsucht meist nur mit den Fingerkuppen kratzen", erzählt Schmid-Grendelmeier. Bei Neurodermitis-Patienten finden sich Kratzspuren typischerweise in Kniekehlen oder Ellenbeugen, bei psychisch bedingtem Juckreiz meist nur an Stellen, die die Betroffenen leicht erreichen können.

Es gibt fast keine Hautkrankheit, die nicht mit Juckreiz einhergehen kann. Ähnlich viele Ursachen gibt es, wenn es juckt, ohne dass an der Haut etwas zu erkennen ist: Alle möglichen Stoffwechselkrankheiten, Tumoren, HIV, Parasiten, Medikamente und sogar Nervenkrankheiten wie multiple Sklerose.

Hirn versucht, Juckreiz zu unterdrücken

"Wir beginnen erst langsam, die zugrunde liegenden Mechanismen zu verstehen", sagt Ulf Darsow, Dermatologe am Klinikum Rechts der Isar der Technischen Uni München. Sein Team zeigte mit Kernspintomografie-Studien, dass bei Juckreiz mit Hautveränderungen die Juckreiz-verarbeitenden Hirnareale aktiver sind. "Das Hirn scheint zu versuchen, den Juckreiz zu unterdrücken", sagt Darsow. "Bei der Entwicklung neuer Medikamente sollten sich Forscher auch auf diese Mechanismen im Hirn konzentrieren."

Nur bei wenigen der heutigen juckreizstillenden Medikamente ist belegt, dass sie helfen. Grundlage der Therapie sind allgemeine Maßnahmen wie rückfettende Cremes. Zusätzlich verschreibt der Arzt Medikamente je nach Grundkrankheit – und wenn diese nicht helfen andere Therapien wie UV-Behandlung oder das einen Hitze- oder Schärfereiz hervorrufende Capsaicin. Paul Bigliardis Team entwickelte vor Jahren eine Creme mit Naltrexone, was normalerweise bei Opiat- oder Alkoholabhängigkeit eingesetzt wird.

Der 29-jährigen Frau konnte Schmid-Grendelmeier zum Glück helfen. Blutwerte und eine Probe aus der Leber ergaben, dass sie unter einer seltenen Autoimmunkrankheit der Leber leidet. Mit einem Medikament, das den Gallefluss fördert, und einem anderen, das die Immunreaktion unterdrückt, ist die Frau vom Juckreiz befreit. (Felicitas Witte, 11.5.2015)