Wien – Am Anfang bekommt man im Wiener Ernst-Happel-Stadion von einem Moderator mit Erfahrung im Straßenverkauf von Gemüsehobeln einige Sachen erklärt. Erstens sollen wir 44.000 Fans beim Konzert nicht auf unseren Sesseln picken bleiben, sondern aufstehen und spontan Party machen. Zweitens haben wir hoffentlich alle zu Hause die Helene-Fischer-App auf unsere Handys geladen, damit sie später mit uns live auf unseren Displays ihr "Farbenspiel" treiben kann.

Damit das funktioniert, muss man interessanterweise auf Flugmodus schalten und einige wenige persönliche Daten verraten, damit Helene Fischer zum Beispiel auch weiß, welche Themen sie thematisch auf ihrem nächsten Album angehen soll. "Gläserner Mensch" oder "Interaktiv nur mit Dir" wären schöne Songtitel. Helene Fischer lässt sich auf dieser Stadiontour, die sie am Dienstag und Mittwoch zweimal hintereinander auch nach Wien führt, unter anderem von der Deutschen Vermögensberatung sponsern. Darüber könnte man jetzt einen Witz machen, aber wir haben nichts zu verschenken.

Nachdem wir im Publikum die "Applausstufe drei" gezündet haben, weiß Helene Fischer backstage laut dem Gurkenhachler, dass wir alle da sind. Der Vorhang fällt. Es beginnt mit Donner und Blitz, sehr bescheidenem Feuerwerk, Plastikschlangen und Konfetti in Schmetterlingsform. Wahrscheinlich fahren auch Höllenflammen in die Höhe, aber da achten schon alle mehr auf die Choreo auf der Bühne. Es gibt TänzerInnen, die später auch noch André Hellers "Fest der Pferde" mit "Holiday On Ice – Jenseits der Donnerkuppel" kombinieren werden.

Helene Fischer kommt in einem dottergelben Kostüm auf die Bühne, das mehr an den etwas ungelenken Sci-Fi-Charme der 1970er-Jahre als an "Mad Max 2015" erinnert. Griechische Göttin mit Drei-Wetter-Taft trifft auf fremde Völker aus dem Weltraum, die mit Dampfturbinen-Raumschiffen durch die Zeit reisen. Die ungefähr tausendköpfige Band durfte sich nicht mehr umziehen und musste direkt aus dem Bus in Straßenkleidung auf die Bühne. Sie pumpt jene Art von bodenständiger Musik immer wieder auch live aus den Boxen, die Peter Maffay und Bryan Adams als Rock bezeichnen würden. Beide Herrschaften werden von Helene Fischer in den nächsten zweieinhalb Stunden auch gecovert werden. Einmal kommt eine Ballade aus dem Kindermusical "Tabaluga" ("Ich wollte nie erwachsen sein"), einmal das Lied aus "Robin Hood" mit Kevin Costner ("Everything I do I do it for you").

Wahre Arbeit, wahrer Lohn

Überhaupt covert Helene Fischer zwischen ihren eigenen, einander im höheren Tempobereich dank Mitpaschfaktors römisch eins erheblich ähnelnden Liedern ziemlich viel. Grönemeyers "Männer" sind ebenso fällig wie "Simply the Best" von Tina Turner und "The Rose" von Bette Midler. Letztgenanntes Lied wird obligat auf einer kleineren Bühne in der Mitte des Stadions gegeben. Helene Fischer kombiniert Schlager, Musical und Stadionrock streng nach Stylebook. In die Mitte des Stadions ist Helene Fischer "Von hier bis unendlich" aufgehängt an Seilen geflogen. Das war sehr beeindruckend. Wahre Arbeit, wahrer Lohn. Helene Fischers Erfolg ist hart erarbeitet. Bis zu ihrem Superhit "Atemlos durch die Nacht", der in Wien natürlich ganz am Schluss kommt, brauchte es immerhin sechs Alben und tausende Auftritte in Mehrzweckhallen.

Wenn man das durchhält, lernt man in der Provinz fürs Leben. Man erkundet zum Beispiel beim Publikum den Musikbedarf. Dieser spannt sich im Gegensatz zu den großen Grabenkämpfen bis hinein in die 1990er-Jahre heute von Schlager und volkstümlicher Musik über klassische Disco, von gemäßigtem VW-Golf-Techno über Hardrock hin zur klassischen Musik und exotischen Klängen wie Flamenco oder einer Mischung aus Sirtaki und Russendisko.

Helene Fischer hat mit stählerner, im Musicalgenre geschmiedeter Stimme alles im Programm. Schließlich geht heutzutage ja auch alles. Es ist, als ob man in einen aalglatten, unkaputtbaren und kaum schwitzenden Cyborg das Programm von Radio Wien eingebaut hätte. Eigentlich fehlt nur "Wake Me Up Before You Go Go" von Wham!. "Seven Nation Army", "Party Rock Anthem", Vivaldis "Vier Jahreszeiten" in der Version von Rondo Veneziano oder "Kashmir" von Led Zeppelin werden auch gebraucht, damit Helene Fischer sich umziehen kann. Der Kostümbildner greift möglicherweise oft bewusst daneben, um die Nähe zum Volk und dessen Geschmacksverirrungen zu unterstreichen. Um es vorsichtig zu formulieren: Ein Glitzerkostüm sieht aus wie aus der "Muppet Show", ein anderes wie der Stiel eines Parasols ohne Kappe.

Emotional hat die Durchhalte- und Überlebenswillenlyrik in "Vergeben, vergessen und wieder vertrau'n", "Ich will immer dieses Fieber spüren", "Unser Tag" oder "Ein kleines Glück" den Tiefgang eines Löschpapiers in einem Lavoir voll Wasser. So wird der durchschlagende Erfolg Helene Fischers auch erst möglich. Alles für alle, aber nicht zu viel. (Christian Schachinger, 1.7.2015)

Im Wiener Ernst-Happel-Stadion: Helene Fischer und der alte Traum des deutschen Schlagers vom Fliegen.

Foto: Christian Fischer

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