Ich lebe, schrieb die Dame auf Facebook, in einer Parallelwelt. Das sei weder meine noch ihre Schuld, sondern genetisch determiniert: Ich sei ein Mann, sie eine Frau. Genauso wenig, wie sie sich in meine Haut versetzen könne, könne ich nachvollziehen, wie unangenehm für Frauen manche Situationen sein können, die für einen Mann … und so weiter.

Stimmt. Aber manchmal kapiere sogar ich, dass etwas weit jenseits von "darüber kann man geteilter Meinung sein" ist. Wegen so einer Sache hatten wir einander kennengelernt. Online. In einer Laufgruppe auf Facebook. Da hatte eine andere nämlich ein richtig g'schissenes Erlebnis beschrieben.

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Foto: REUTERS/Darren Staples

Hier – gekürzt – die Geschichte:

"Ich war laufen. Im unteren Prater. Nach 700 Metern ist mir ein Mann mittleren Alters aufgefallen. Er ist mir hinterhergelaufen und wurde schneller. Während ich mich mental anspornen wollte, schneller zu laufen, kam er von hinten – und griff mir mit beiden Händen an den Hintern. Er kniff richtig hinein."

"Geschockt habe ich mich umgedreht. Er lachte. Ich habe wie ein Rohrspatz losgeschrien – aber er lief unbeeindruckt weiter. Es war ihm egal, welche Beleidigung ich ihm an den Kopf warf: Er fand es amüsant"

"Seitdem traue ich mich nicht mehr, alleine laufen zu gehen. Ich bin kein Angsthase und habe mich bis jetzt beim Laufen immer frei gefühlt. Aber ich habe die letzten zwei Male gemerkt, dass mein Puls bei über 200 liegt und ich mich vor lauter Panik ständig umgedreht habe."

"Wie Fallobst abgetatscht"

"Meine ersten Gedanken danach? Was habe ich gemacht, um ihm den Eindruck zu geben, er dürfe mir in den Hintern kneifen? Ich bin eigentlich zweckmäßig angezogen. Weit weg von anzüglich. Wobei: Das sollte egal sein. Wer oder was gibt ihm das Recht, mich wie ein Stück Fallobst anzutatschen?"

"Der Typ ist öfter in der Gegend unterwegs. Er ist mir schon einmal über den Weg gelaufen, als ich mit meinem Hund spazieren war. Er hat ständig meinen Weg gekreuzt – bis er mir zurief: 'Geiler Arsch.'"

Keine Frage: Da gibt es nichts zu relativieren. Und auch wenn ich nicht so naiv bin zu glauben, dass das der Einzelfall der Einzelfälle ist, fragte ich in meinem weiblichen Bekanntenkreis, ob es da ähnliche Lauferfahrungen gebe und wie Frauen damit umgingen.

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Grapschen, Blicke, Zurufe: ganz "normal" für laufende Frauen?
Foto: reuters/stefan wermuth

Paralleluniversum und Generalverdacht

Ich war baff: kaum eine Bekannte, die NICHT über anlassige Blicke, blöde Zurufe von der Seite, "Begleitläufer" oder (scheinbar um einiges beunruhigender) -radfahrer zu erzählen gewusst hätte. Ich bekam Geschichten von fotografierenden, pfeifenden und johlenden Herren jeden Alters, jeder Ethnie und jeder (dem Anschein nach) sozialen Schicht serviert. Von Gegenstrategien, die von "Kopf einziehen" bis "Watschen androhen" reichten. Von Kleider- und Haarstrategien.

Und vom Generalverdacht: Ich hatte mich oft gewundert, warum Männer, denen man (dem Laufknigge folgend) auf nicht überlaufenen Routen unterwegs zulächelt oder zunickt, in der Regel zurückgrüßen, während Frauen meist stur geradeaus starren. Oder den Kopf demonstrativ wegdrehen.

An dieser Stelle kam das Zitat vom Beginn dieses Textes: Lächeln sei prinzipiell okay. Aber Zurücklächeln nicht ungefährlich: "Männer leben da in einem Paralleluniversum."

Lieber doch zur Polizei

Die Zitatspenderin hatte selbst eine "nette" Geschichte parat: Sie war – unterwegs mit einer Freundin – von einem Radfahrer "angesprochen" worden. "Er holte aus dem Hosenbein sein Dings heraus und fragte, ob wir ein warmes Plätzchen dafür wüssten."

Bei den beiden Frauen sei er an die Falschen geraten: "Wir haben ihn ausgelacht. Aber allein hätte ich Angst gehabt, da er am Fahrrad, also auf jeden Fall schneller, war."

Der Vorfall hatte sich auf der Prater Hauptallee ereignet. Am Praterstern gibt es ein Wachzimmer. "Wir wollten zuerst nicht zur Polizei gehen, es war abends, wir wollten nach Hause. Dann überlegten wir uns aber, dass der ja auch andere erwischen könnte, vielleicht auch Minderjährige. Daher dann doch zur Polizei. Die haben uns den Kopf gewaschen: Warum wir nicht gleich per Handy Alarm geschlagen hätten? Weil unsere Beschreibung mit Helm, Spiegelbrille, peinlicher Werbungsradmontur jetzt nicht mehr wirklich hilfreich sei …"

Die Lektion übers Paralleluniversum war noch nicht vorbei: "Abends kann es einem schon mulmig werden manchmal. Gerade wenn einem von hinten jemand näher kommt. Man hört nur die Schritte. Es gibt nette Männer, die einfach ein bisschen weiter ausholen, damit es gar nicht als Bedrohung empfunden werden kann. Ich habe aber davor und danach in der Prater Hauptallee nie etwas Unangenehmes erlebt – aber ich würde alleine nach 21 Uhr nie dort laufen gehen: Ich habe glücklicherweise ein Laufnetzwerk, wo eigentlich immer jemand Zeit hat. Einige Männer in unserem Umfeld waren ganz verblüfft, dass wir das so sehen, und meinten, sie hätten sich darüber bei der Wahl ihrer Laufstrecken noch nie Gedanken gemacht."

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"Abends kann es einem schon mulmig werden."
Foto: apa/epa/cj Gunther

Ich auch nicht. Andere schon? Die Polizei eventuell? Subjektives Sicherheitsgefühl und der Umgang mit realen wie gefühlten Bedrohungen sind ein ewiges Thema des kriminalpolizeilichen Beratungsdiensts. Doch eine immer und allgemein gültige Anleitung für das richtige Verhalten vor, während und nach so einem Vorfall, bedauerte Franziska Tkavc, habe sie nicht parat: "Wenn ich sie hätte, würde ich ein Buch schreiben und wäre reich", erklärte die Kriminalbeamtin. Und wurde sofort ernst.

Denn Tkavc weiß genau: Belästigungen sind nie banal. Wann, wo und wie ein Übergriff beginnt, hängt davon ab, wie die (aber natürlich auch der) Betroffene die Situation erlebt. Bagatellisieren ist kontraproduktiv – weil das Kleinreden von Dingen, die einen fertigmachen, nie zu einer Verbesserung oder Entspannung der Situation führt.

Die Königinnenhaltung

Tkavc berät nicht nur, sie trainiert auch: Sie gibt Selbstverteidigungskurse für Frauen und Mädchen. Erstes Ziel sei da nicht die jedem Zweikampf gewachsene "Wonderwoman", sondern eine "authentische und selbstbewusste Einstellung zu sich selbst. Das beginnt bei der Körperhaltung. Ich nenne das die 'Königinnenhaltung' – eine Haltung, die auch eine Grundeinstellung ist, die besagt und zeigt: 'Ich bin etwas wert.'" Dieses Selbstbewusstsein nicht durch Zurufe (oder Übergriffe) von außen infrage stellen zu lassen sei der erste Schritt: "Dass diese Frau (die vom Beginn der Geschichte, Anm.) zunächst bei sich selbst einen Fehler in Verhalten oder Kleidung sucht, ist ein sehr typisches Verhalten. Und es ist ein ganz zentraler Punkt klarzustellen, dass sie gar nichts falsch gemacht hat. Nicht in puncto Outfit und auch nicht beim Verhalten."

Im Nachhinein? Auch nicht. Aber: "Ich plädiere dennoch dafür, solche Vorkommnisse zu melden. Auch wenn die Kollegen da im Moment oft nichts Konkretes tun können: Oft ergibt sich aus mehreren solchen Meldungen ein Gesamtbild, das uns hilft, das dann eben doch einmal zu beenden."

Es gibt keine allgemeingültige Antwort

Ob es also sinnvoll sei, beim Laufen in der einen Hand den Pfefferspray zu halten und in der anderen das fotografierbereite Handy? Die Kriminalbeamtin legt den Kopf wieder schief: "Du willst jetzt so wie alle anderen auch eine allgemeingültige Antwort. Aber die gibt es eben nicht. Natürlich hilft uns ein Foto. Nur: Bin ich als Läuferin – allein, am Abend und körperlich vermutlich unterlegen – bereit, dafür zu riskieren, einen Mann, der vielleicht 'nur' – unter Anführungszeichen! – provozieren will, so zu reizen, dass er eventuell gewalttätig wird?"

Ähnliches gelte auch für Pfefferspray und Co unterwegs: "Es gibt Täter, die durch den Einsatz so einer Waffe momentan noch aggressiver werden." Andererseits: "Sich selbst aufzugeben, stillzuhalten und den Täter ungehindert gewähren zu lassen ist auch keine Lösung."

Wichtig sei, – lange – im Vorhinein Eskalationsszenarien im Kopf durchzuspielen. Zu bedenken, welcher Aktion welche Reaktion folgen könnte und abzuwägen, ob man "bereit ist, diesen Weg zu gehen: Es wäre fahrlässig, das nicht zu sagen."

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Selbstbewusstsein ist der Anfang jeder Selbstverteidigung.
Foto: ap/matt rourke

Selbstverteidigungskurse, weiß Franziska Tkavc, helfen nicht nur, Selbstvertrauen aufzubauen, sondern auch, eigene Verhaltensmuster zu erkennen: "Mädchen lernen von klein auf zu kalmieren. Interessanterweise sind Mädchen mit größeren Brüdern aber oft weit weniger zimperlich dabei, sich auch körperlich zur Wehr zu setzen. Die treten ganz anders auf, weil sie gelernt haben, dass man sich gegen diese Art der Ruppigkeit manchmal nicht anders schützen kann. Aber sie wissen auch, dass man dabei selbst einen blauen Fleck abbekommen kann."

Das gehöre mit zu den Dilemmata, wenn Frauen lernen sollen, sich zu wehren: "Die anerzogene 'Es muss alles immer ins Bild passen'-Mentalität sehe ich sogar im Training, in Kursen: Da verrutscht ein Shirt, und mitten im Handgemenge wird plötzlich an der Kleidung herumgenestelt. Dieses Bewusstsein engt ein, macht unsicher. Und wird ausgenutzt."

Aufs Bauchgefühl verlassen

Sie versuche, erklärt die Tainerin, Frauen und Mädchen mit einem "geschulten Radar" aus ihren Kursen gehen zu lassen. "Ich rate den Frauen, sich auf ihr Bauchgefühl zu verlassen, auf ihre Intuition, und ein komisches Gefühl nicht einfach wegzuwischen: Wenn ich mich wohl und sicher fühle, strahle ich das aus."

Die Forderung, dass Männer aus Rücksicht auf mögliche Ängste präventiv die Straßenseite wechseln (oder beim Laufen einen weiteren Bogen machen) sollen, würde sie aber nicht unterschreiben: "Damit bestärke ich doch nur diese Grundhaltung, diesen Glauben, dass im Grunde alle Böse sind und erst das Gegenteil beweisen müssen. Das ist unfair, macht paranoid und kostet auch Frauen Lebensqualität: Lebensqualität braucht Selbstbewusstsein. Und Selbstbewusstsein ist der Anfang jeder Selbstverteidigung. Die beginnt nicht erst, wenn ich beim Laufen ein Keuchen hinter mir näher kommen höre, sondern viel früher: in der Früh, beim ersten Blick in den Spiegel und dem Satz 'Ich bin etwas wert'." (Thomas Rottenberg, 2.7.2015)