Rudolf Simek: "Monster im Mittelalter. Die phantastische Welt der Wundervölker und Fabelwesen"
Broschiert, 360 Seiten, € 30,80, Böhlau 2015
Ein Herzensprojekt, mit dem er laut eigenen Angaben ein Vierteljahrhundert schwanger ging, hat sich der österreichische Skandinavist und Mediävist Rudolf Simek verwirklicht: Nämlich ein Lexikon all der wundersamen halbmenschlichen Völker zu erstellen, die man im Mittelalter in fernen Regionen der Welt ansässig wähnte und – anders als Elfen oder Zwerge – durchaus für real hielt. Sein "Monster im Mittelalter" gibt damit Überblick über etwas, das man durchaus die Science Fiction des Mittelalters nennen könnte; aber mehr zu diesem speziellen Aspekt später.
Zunächst einmal muss man sich wundern, dass heutige Fantasy-AutorInnen, die doch so gerne nach mythologischem Material in der Klamottenkiste wühlen, von den hier aufgezählten Wesen so gut wie keinen Gebrauch machen. Denn so exotisch diese heute auch anmuten – sie hatten mal, zumindest unter Schriftkundigen, einen ebenso großen Bekanntheitsgrad und eine genauso lange Tradition wie die heutzutage endlosrecycelten Elfen, Zwerge & Co. Fresh stuff here!
Ein Panoptikum ohnegleichen
Mal sehen, da hätten wir etwa die Blemmyae: Menschen ohne Kopf, denen Augen, Nase und Mund aus dem Brustkorb wachsen (zu unterscheiden übrigens von den grundsätzlich ähnlichen Epiphagi, bei denen die Augen allerdings in Achselnähe sitzen). Kranichschnäbler mit langem Hals und hundsköpfige Cynocephales. Die fantastischen Skiopodes, die nur ein Bein und einen Fuß haben, auf dem sie – wie auch immer – rasend schnell laufen können. Außer wenn sie sich auf den Rücken legen und ihren übergroßen Fuß als Sonnenschirm über sich halten ... Die Panotii mit ihren riesigen Schlappohren, in die sie sich wie in ein Gewand wickeln. Und zum Ausgleich die Psambari, die gar keine Ohren haben, was verblüffenderweise auch für alle ihre Tiere gilt. Im 80-seitigen lexikalischen Teil seines Buchs listet Simek sie alle auf, von Menschenfressern bis zu behaarten Frauen.
Womit wir auch schon zur zweiten Hauptattraktion des Buchs kommen: Den zahlreichen enthaltenen Fotos, die Illustrationen aus mittelalterlichen Schriftstücken ebenso wie Ornamente der kirchlichen Bauplastik zeigen. Und die zum Großteil unfassbar komisch sind. Nicht nur wegen der Motive an sich, sondern auch weil – let's face it – das Mittelalter nun einmal nicht unbedingt die Blütezeit naturalistischer oder perspektivengetreuer Illustrationskunst war. Da sehe ich etwa ein paar Menschen neben einem großen Hund, lese in der Bildlegende das Wort "Elefant", werde stutzig, blicke zurück und: tatsächlich. Dem Hund ist vorne eine Art Trichter angeflanscht. Ein Elefant! Gleich auf der nächsten Seite reitet jemand auf etwas, das als Krokodil ausgewiesen wird, aber aussieht wie ein Hase mit Schwimmhäuten.
Einige besondere Highlights entstammen der Abschrift eines Werks von Thomas von Cantimpré, das wundersamen Meeresbewohnern gewidmet war und in dem sich eine Seekuh beispielsweise als Fisch mit Rindskopf präsentiert. Überhaupt war die See damals recht gut befüllt: Außer Meerjungfrauen hielt man auch Meermönche und Meerritter für möglich. Letzterer prangt uns in derselben Schrift als Fisch mit Schutzhelm entgegen, es ist zum Niederknien.
Literaturwissenschaftliche Perspektive
Zu beachten ist: Als Skandinavist und damit Germanist zieht Simek das Thema von der motivgeschichtlichen Seite auf. Der Großteil des Buchs ist also der Frage gewidmet, wie sich die Beschreibungen der diversen "Wundervölker" von ihren größtenteils aus der Antike stammenden Wurzeln weiterentwickelt haben, als sie von späteren Autoren aufgegriffen und verändert wurden – einerseits in der epischen Dichtung des Mittelalters, noch mehr aber in Enzyklopädien und anderen Werken der damals üblichen Mischung aus naturwissenschaftlicher und theologischer Betrachtung. Für den Leser bedeutet diese Form der literaturwissenschaftlichen Evolutionsgeschichte kurz gesagt: Namen, Daten und Quellenangaben galore.
Sehr genau nimmt Simek es auch mit der Unterscheidung zwischen den "Wundervölkern", "Fabelrassen" oder kurz "monstra", denen dieses Buch gewidmet ist, und all denjenigen Märchenwesen, die im Mittelalter nicht unter den "Monster"-Begriff fielen. Der konnte dem heutigen Verständnis nämlich durchaus widersprechen: Ein Drache etwa hätte nicht als Monster gegolten, da laut Simek ein Monster damals zumindest eine menschliche Komponente enthalten musste (bei Meeresbewohnern scheint man es allerdings weniger genau genommen zu haben). Nachvollziehbar ist die Abgrenzung gegenüber übernatürlichen und körperlosen Wesen wie Dämonen. Warum allerdings sehr menschlich wirkende Wesen der "niederen Mythologie" wie etwa Wichtel oder Elfen keinen Eingang in Wundervölkerkataloge fanden – anders als diverse Mischwesen aus Mensch und Tier – erschließt sich einem in biologischen Kategorien denkenden Menschen von heute nicht. Leider auch nicht nach der Lektüre von Simeks Buch.
Einblicke in das mittelalterliche Denken
Die einzige verbindende Komponente scheint gewesen zu sein, dass die Wundervölker allesamt in fernen Weltgegenden angesiedelt wurden. Womöglich sogar auf dem damals heiß diskutierten hypothetischen "Australkontinent" auf der anderen Seite der Welt. Simek widmet sich in einem sehr lesenswerten Kapitel ausführlich der Irrmeinung, dass man im Mittelalter die Erde für eine Scheibe gehalten habe. Die Kugelgestalt galt als weithin akzeptiert – nur über die Frage, ob auf der Rückseite der Erde mehr als nur Wasser sei, konnte man sich nicht einigen.
Durch ihre Abgelegenheit konnten die Wundervölker als Projektionsflächen für alle möglichen Moralvorstellungen dienen. Allegorische Auslegungen ihrer Besonderheiten wichen offenbar extrem voneinander ab; jeder theologische Autor bog sie sich zurecht, wie es ihm gerade ins Konzept passte. Einige – etwa die Amazonen oder die zum Volk umgedeutete indische Brahmanenkaste – hatten ein besseres Image als andere, aber im Prinzip galten die "Monster" als wertneutral. Angst machten sie nicht, schon eher erregten sie Mitleid und manchmal sogar Respekt. Oft sahen sie anders aus als (europäische) Menschen, manchmal hatten sie auch einfach nur als ungewöhnlich empfundene Sitten – an ihrem Status als Menschen bzw. beseelte Kinder Gottes herrschte aber kaum Zweifel.
SF-Aspekte
Und damit schlagen wir den Bogen zur anfänglich erwähnten "Science Fiction des Mittelalters" zurück. Dieser Ansatz von "anders, aber ungefähr gleichwertig", also die "Monster" als theoretisch denkbare alternative Formen menschlichen Lebens zu betrachten, wie Simek es nennt, entspricht im Grunde exakt der Stellung von Aliens in der Science Fiction. Wir haben bloß den Rand unserer Welt längst erreicht und mussten daher die Wundervölker auf andere Planeten verschieben.
Bei der Beispielsfindung für diesen Gedankengang, dem Simek das Abschlusskapitel widmet, zeigt sich freilich, dass er kein SF-Analytiker ist (was er ja auch nicht sein muss). Außer ein paar Altklassikern wie Wells und Laßwitz zitiert er nur die populärsten, man könnte auch sagen banalsten Beispiele: "Alf", "E.T." und "Star Trek". Dieses sehr eingeschränkte Sample führt auch zu einer Oberflächlichkeit, die in starkem Kontrast zu der Exaktheit steht, auf die Simek zuvor gepocht hatte (siehe die unterschiedliche Augenposition von Blemmyae und Epiphagi). Nimmt man's erst so genau, kann man nachher allerdings nicht die Fühler der Andorianer mit den Hörnern von Satyrn über einen Kamm scheren, um eine Art kultureller Kontinuität herbeizureden. Und "hundsköpfig" sehen Klingonen beim besten Willen nicht aus.
Immerhin schränkt Simek solche an den Hörnern herbeigezogene Vergleiche selbst ein: Diese Parallelen müssen nicht unbedingt auf die Entlehnungen bei den mittelalterlichen Fabelrassen zurückgehen, sondern verweisen auch auf ähnliche kreative Muster bei der Erschaffung von Wundervölkern. In der Tat. Oder sie verweisen auch einfach nur auf die eingeschränkten Möglichkeiten, mit denen die Make-up-Abteilung eines TV-Studios einen Schauspieler zum Alien umstylen kann.
Die Anderen als unser Spiegel
Da Simek in der Science Fiction erkennbar weniger zuhause ist als im Mittelalter, entgehen ihm allerdings auch Beispiele, die seine Verknüpfung von Wundervölkern mit SF sehr wohl stützen. Wenn er schreibt, dass sich die Science Fiction fast nur auf die äußerlichen Besonderheiten von Außerirdischen beschränke, dann verkennt er ein ganzes riesiges Teilgebiet der SF mit langer Tradition: Von Ursula K. LeGuin bis zu Iain Banks' Kultur wimmelt es in der Science Fiction nur so vor Zivilisationen, deren Angehörige nicht körperlich, sondern in der Art ihrer sozialen Organisation von uns abweichen. Und die uns und unserer Kultur damit einen Spiegel vorhalten, um uns selbst zu überdenken – wie es einstmals die Amazonen und Brahmanen/Bragmani taten.
"Monster im Mittelalter" hat seine Stärken dort, wo Simek sich auf sein Kernthema beschränkt und faszinierende Einblicke in die Denkweise einer Zeit gibt, die von der unseren oft beträchtlich abwich – ihr manchmal aber auch überraschend ähnlich war. Bei Bezügen zur Gegenwart wäre noch einige Luft nach oben. Offen bleibt nicht zuletzt die Frage, warum fast alle der hier beschriebenen Völker aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden sind, während Elf und Zwerg so populär sind wie eh und je. Aber vielleicht ändert sich das ja nun und Piper lässt bald eine ganz neue Welle von Völkerromanen auf den Markt los. Ich warte gespannt auf die erste Einfüßler-Trilogie.