Schnell ist relativ. Außer man ist wirklich schnell. Aber: das war und bin ich nicht und werde es auch nie sein. Aber manchmal fühlt sich das, was ich auf den Boden bringe, schon auch ein bisserl schnell an. Für mich zumindest. Samstagvormittag zum Beispiel. Da lief ich brav meine Intervalle: 5 mal 2 Kilometer – sub 4’25". Für mich ist das schnell. Sauschnell. Doch dann kam Lemawork Ketema daher. Und glauben Sie mir: Der Mann ist wirklich schnell. Wirklich wirklich schnell: Wo ich – aber auch weit stärkere Läufer – voll auf Anschlag bin, ist der 29-Jährige gerade mal in der Grundlage unterwegs.

Foto: Thomas Rottenberg

Und wo ich dampfend, schwitzend, schnaufend, hyperventlierend und so "voll im Laktat" bin, dass ich kaum mehr meine eigene Uhr ablesen kann, gibt der gebürtige Äthiopier eloquent, freundlich und höflich Interviews. Während des Laufens. Und freut sich allem Anschein sogar noch darüber, wenn man ihn erkennt und ihn anspricht. Aber: Sehen Sie selbst, wie das aussieht, wenn eine Mittelklasse-Hobette mit einem Weltklasseathleten mithalten will …

Thomas Rottenberg

Eigentlich wollte ich diese Video hier so für sich stehen lassen. Und eventuell noch anmerken, dass Lemawork Ketema nicht bloß zweimal die globale Wertung des "Wings for Life Runs" für sich entscheiden konnte (einmal mit 78,6 und einmal mit 79,9 Kilometern), sondern "nebenbei" 2014 auch den Graz-Marathon. Oder dass er im gleichen Jahr bei "Kärnten läuft" in einem internationalen Weltklassefeld 7. wurde. Oder dass er beim Marathon in Rio heuer Zweiter (mit 2 Stunden 14 und 23 Sekunden) wurde. Oder … Und so weiter.

Der Traum vom Start in Rio

Und dann mit jener Conclusio enden, die der fast 30-Jährige ja auch im Video bestätigt: Dass er alleine arbeite und trainiere – und keine nennenswerte Unterstützung erfährt. Weder von anderen Läufern, noch von Verbänden. Obwohl sein größter Wunsch doch laute, 2016 für Österreich in Rio starten zu dürfen. Um, wie er sagt, etwas zurück zu geben: "Weil Österreich mir die Chance gibt, hier zu leben und zu arbeiten."

Ketema ist Flüchtling. Der Profi-Läufer war 2013 vom Veranstalter des Salzburg-Marathons eingeladen worden – und "abgesprungen". Hatte also um politisches Asyl angesucht. Während sein Verfahren lief, durfte er – logischerweise – an keinen Läufen außerhalb Österreichs teilnehmen. Stattdessen trainierte und lief er eben im Inland. Und zwar auf einem Level, das – wäre er Fußballer oder Opernsängerin – ihn innerhalb von Sekunden amtlich zum Österreicher mutieren lassen hätte. Aber bei Läufern …

Foto: Harald Fritz

Ich hatte den Äthiopier schon öfter gesehen. Im Prater sowieso. Aber auch bei anderen Läufen. Und auch mit ihm und denen, die ihn unterstützen, geplaudert. Und jedes Mal klang da (bei den Österreichern im Hintergrund) ein bisserl Frust mit: Da läuft einer bei "uns", der "daheim" mit jenen Äthiopiern und Kenianern lauf-sozialisiert wurde und in den legendären afrikanischen Superläufer-Gruppen trainiert hat, der nichts sehnlicher will, als für Österreich zu starten – aber obwohl Österreich in Sachen Leichtathletik und Laufsport nicht wirklich eine Weltmacht ist, ist das Echo darauf enden wollend. Höflich formuliert.

Also postete ich das genau so auf Facebook: Schön affirmativ.

Foto: Harald Fritz

Das kam super an. Und es geschah ja auch im besten Glauben. Aber: Mit der Botschaft, dass das Talent des Lemawork Ketema hierzulande – abgesehen von ein paar gutmeinenden Trainern und Vereinen und Gönnern, die teils sogar lieber im Hintergrund bleiben wollen – absolut niemanden interessiere, habe ich wohl ein bisserl übers Ziel hinausgeschossen.

Das sei, tröstete mich Harald Fritz, zwar nachvollziehbar – aber nichtsdestotrotz falsch. Mittlerweile. Denn: Mittlerweile tut sich was. Und zwar Einiges. "Wir sind in einer sehr sensiblen Phase."

Harald Fritz ist Ketemas Trainer. Der Stockerauer "entdeckte" den Flüchtling beim Training in der Au: "Der lief da immer alleine rum, weil er in Greifenstein untergebracht war. Er hatte eigentlich nix – aber wenn einer rennt wie Lemawork, dann fällt das auf."

Die Stockerauer statteten den Läufer mit dem Nötigsten aus – und gemeinsam mit Wilhelm Lilge (www.team2012.at) kümmerte sich Fritz um Startplätze und Netzwerke für den Äthiopier. Zunächst – solange das Asylverfahren lief – nur in Österreich. Seit der Anerkennung als Flüchtling auch überall sonst: Lemawork Ketema war nicht einfach nur wegen des Marathons in Rio – er wollte sich schon mal akklimatisieren. Vorbereiten.

Foto: Wings for Life

Denn so unrealistisch, wie es noch im Frühjahr schien, ist es heute längst nicht mehr, dass der gebürtige Äthiopier in Rio in Rot-Weiß-Rot antreten dürfen könnte: "Der Ministerrat entscheidet zweimal im Jahr über Einbürgerungen. Einmal im Juni und einmal im Dezember. Und für den Dezember sind wir gerade in der heißen Phase", erklärt Fritz.

Der Ablauf: Die Wohngemeinde – in diesem Fall Wien – prüft, ob eine Einbürgerung im Interesse des Landes wäre. Dann empfiehlt sie das dem Innenministerium. Das bittet das zuständige Ressort um eine Stellungnahme. Fällt die positiv aus, reicht das BMI den Akt an den Ministerrat. "Das Ministerium hat gerade beim Verband wegen Lemaworks Leistungen nachgefragt. Er muss besser sein als die heimischen Läufer." Beim Halbmarathon ist Ketema das "locker" (Fritz) Und auch bei den Marathonzeiten "hat er mittlerweile alle Österreicher abgehängt."

Etwas zurückgeben

Darum sei er – der Trainer – optimistisch. Und auch stolz auf den Stolz seines Läufers: "Theoretisch hätte Ketema seit dem positiven Abschluss des Asylverfahrens Anspruch auf Mindestsicherung. Er hat das aber rigoros abgelehnt. Zum einen, weil er sagt, dass er einen Beruf hat: Läufer. Er lebt von Preisgeldern und Sponsoren – auch wenn das derzeit eher bescheiden ist. Zum Anderen will er niemandem auf der Tasche liegen: Allein die Tatsache, dass er hier sein kann, dass Österreich ihn aufgenommen und vor erneuter Haft in Äthiopien bewahrt hat, ist Grund genug, dass er sagt, dass er keine Hilfe annehmen will, sondern etwas zurück geben will."

Foto: Harald Fritz

Ketemas Traum (abgesehen von Olympiamedaillen): Nachwuchsarbeit. Und die Schaffung von Trainingsgruppen heimischer Läufer ähnlich denen der Afrikaner: "Er hat ja mit denen trainiert, die gerade weltweit alles gewinnen. Und weiß, dass er mithalten kann: Das Training in diesen Gruppen bringt allen unendlich viel. Aber in Österreich funktioniert das nicht. Da sind lauter Eigenbrötler unterwegs. Das ist nicht nur schade, es macht auch schwächer."

Und Harald Fritz hat mit "seiner" Entdeckung noch große Pläne: "Lemawork ist 29 – da sollte sich zweimal Olympia noch locker ausgehen. Aber ich sehe ihn auch ganz woanders. Der Mann ist eine 'Stoffwechselmaschine': Ich traue ihm den Weltrekord über 100 Kilometer locker zu. Der liegt derzeit bei 6 Stunden 13 Minuten – das wäre eine Durchschnittspace von 3’45" am Kilometer. Wenn Lemawork nur ein bisserl Ruhe und Support bekommt, ist das sehr realistisch."

Foto: Thomas Rottenberg

Freilich: Auch wenn die Geschichte von Lemawork Ketema mittlerweile "sehr gut" (Fritz) aussieht, lässt der Trainer das offizielle Österreich doch nicht ganz aus der Pflicht.

Denn Lemawork Ketema kann durchaus als Beispiel dafür stehen, was in Lagern und Unterkünften an Potentialen brach liegt – und zwar bei Weitem nicht nur sportlich: "Keiner hat erkannt, dass da ein Spitzenläufer herumsitzt und wartet. Es hat sich schlicht und einfach niemand dafür interessiert, was dieser Mensch kann. Und will." (Thomas Rottenberg, 3.9.2015)