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Peter Härtling, Meister der biografischen Erzählkunst.

Foto: dpa/Frank May

Wien – Als der Tonsetzer Giuseppe Verdi (1813-1901) seine Aida komponiert hatte, näherte er sich dem sechzigsten Jahr. Der Greis besaß in den Jahren danach durchaus nicht mehr den Wunsch, eine neue Oper zu schreiben. Verdi war zu diesem Zeitpunkt ein Star. Person wie Werk standen gleichsam im Besitz der jungen italienischen Nation. Seine epochale Geltung wurde höchstens von denjenigen bestritten, die Wagners "Gesamtkunstwerk" Verdis Bemühungen um Psychologie und Schöngesang vorzogen.

Er selbst drohte sich verschiedentlich abhandenzukommen. Peter Härtlings wunderbare Roman-Biografie Verdi beginnt irritierend wie ein Film von Michael Haneke. Der greise Komponist erhebt sich mitten in der Nacht aus dem Bett und droht, den Faden seiner Lebenserzählung zu verlieren. Sein eigener Atem dünkt ihn wie der "eines Kindes": "Hilf mir, bitte. Ich finde mich nicht zurecht." Seine Frau, die Opernsängerin Giuseppina ("Peppina") Strepponi, wärmt Verdi auf und hilft dem Verzagten wieder auf die Sprünge.

Er sei kindisch und alt, murmelt der Komponist. Kurze Zeit darauf wird er sein Streichquartett geschrieben haben. Das Stück bildet den Auftakt zum bestürzend neuartigen Alterswerk: dem Requiem, Otello und Falstaff. Verdi stapft durch seine Besitzungen in Sant'Agata, wird einsilbiger und unzugänglicher. An den Eitelkeiten des Musikbetriebes zeigt er sich zunehmend desinteressiert.

Bereits einmal hat ein großer Romancier die rätselhaften Meisterjahre Giuseppe Verdis zum Inhalt einer Epochendeutung gemacht. Franz Werfel veröffentlichte Verdi. Roman der Oper 1924. Er entführte darin in ein spukhaftes Venedig, in dem Verdi, durchaus cholerischen Sinnes, die Begegnung mit dem Antipoden Wagner herbeisehnt, ehe dessen Tod ihm einen Strich durch die Rechnung macht.

Der Hesse Härtling (81) hat 90 Jahre später einen anderen Zugang gewählt. Sein "Roman in neun Fantasien" ist in Aquarell gemalt. Härtling, selbst kein Jüngling mehr, räumt sich das Vorrecht ein, mit dem Verehrten in ein Zwiegespräch einzutreten.

Der Bayreuther Konkurrent taucht nur indirekt auf. Vielleicht lässt sich der Unterschied zwischen den Dioskuren wie folgt fassen. Verdi schlägt von allen Seiten Verehrung entgegen. Er selbst schließt sich gegen die Welt ab, auch wenn er sich für die Landbevölkerung starkmacht und in Mailand sogar ein Heim für emeritierte Musiker errichten lässt. Wagner ist ein Erlöser neuen Stils. Er sammelt Jünger, die ihm gleich einem Messias folgen. Zugleich handelt dieses kleine, meisterliche Buch von den Rätseln des Alters.

Figuren wie der berühmte Librettist Arrigo Boito bleiben schemenhaft. Dies jedoch nicht, weil ihn Härtling nicht zu beschreiben verstünde. Eher schon sieht Verdi der Welt rund um ihn beim Verlöschen zu. Es ist, als würde das laute, manchmal auch bloß vulgäre 19. Jahrhundert allmählich hinterm Horizont verschwinden. (Ronald Pohl, 16.9.2015)