Wenn körpereigene Zellen zu Krebszellen mutieren, lösen sie eine Art Kettenreaktion aus und entwickeln ein Eigenleben. Wenn Patienten ins Spital kommen, sind viele Prozesse im Körper bereits passiert.

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Zu jedem Zeitpunkt wird von den Zellen eine unüberschaubar große Menge Protein produziert, theoretisch kann jedes einzelne Mal etwas schieflaufen, können Zellen vom Bauplan abweichen.

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Barcelona – Wenn Mediziner sagen, dass etwas kompliziert ist, dann ist das eine wenig hoffnungsvolle Botschaft. Kompliziert ist ein Synonym für Nichtwissen, und die Onkologie ist besonders stark davon betroffen. "Als im Jahre 2000 das Genom entschlüsselt war und wir gesunde und kranke DNA vergleichen konnten, dachten wir, das sei jetzt der Durchbruch", erinnert sich Krebsforscher Luis Diaz von der Johns Hopkins Universität in Baltimore (USA).

Das Gegenteil war der Fall. Die Entschlüsselung des Genoms hat nur Einsichten in die Komplexität eines Organismus gebracht. Wenn Patienten Diaz "Warum habe gerade ich Krebs?" fragen, erklärt er erst einmal, welch riesige zellproduzierende Maschine der menschliche Körper ist. Zu jedem Zeitpunkt wird von den Zellen eine unüberschaubar große Menge Protein produziert, theoretisch kann jedes einzelne Mal etwas schieflaufen, können Zellen vom Bauplan abweichen.

Ein Wunder, so Diaz, dass diese Entgleisungen nicht öfter passieren und Mutationen entstehen. Begünstigt würden Mutationen, und darüber herrscht in Fachkreisen Einigkeit, durch chronische Entzündungsprozesse im Körper, auch Viren können körpereigene Zellen zum Entgleisen bringen. Vor allem ist Alter ein Faktor: Ab 50 Jahren wird der Körper fehleranfällig, auch Umweltfaktoren (Rauchen, UV-Strahlen) spielen eine Rolle.

Wenig Krebs-Gene

Dann aber gibt es Patienten, die Krebs im genetischen Bauplan tragen und schließlich, sagt Diaz, kann Krebs einfach auch nur durch einen blöden, zellulären Zufall passieren. Menschliche DNA besteht aus 20.000 Genen, nur 91 davon haben eine Bedeutung, wenn es um Krankheiten geht, eine Handvoll spielt bei Krebs eine Rolle. Doch es gibt 1.712.998 bekannte Mutationen, und die Frage ist, wohin die Forscher ihre Aufmerksamkeit richten.

"Wir verstehen Genetik und Biologie von Krebserkrankungen immer besser und nutzen das für neuartige Therapieansätze", sagt Andreas Penk, Leiter für Onkologie des Pharmaunternehmens Pfizer. Der Mediziner ortet eine ganz neue Dynamik in der Entwicklung von Krebsmedikamenten. Im Frühstadium entdeckt, können viele Krebsarten tatsächlich geheilt werden, dank neuer Therapien könnte das in Zukunft auch bei fortgeschrittenen Stadien realistisch sein.

Nackte Zahlen

Trotzdem: Der WHO-Krebsbericht liefert durchaus beunruhigende Zahlen. Im Jahr 2012 sind 8,2 Millionen Menschen weltweit an einer Krebserkrankung gestorben, bis zum Jahre 2030 werden 26,4 Millionen von irgendeinem Arzt in irgendeinem Krankenhaus die Diagnose "Krebs" hören. 17,1 Millionen werden daran sterben, 80.000 Patienten werden damit leben. Das macht die Erkrankung auch zur wissenschaftlichen Herausforderung, zu einem riesigen Puzzlespiel mit Millionen von Teilen und vielen Unbekannten.

"Es verdichten sich die Hinweise, dass Tumoren zwar im gleichen Organ, aber aus ganz unterschiedlichen malignen Zellen bestehen können," sagt Krebsforscher Manuel Hidalgo vom spanischen Krebsforschungsinstitut CNIO. Bei Bauchspeicheldrüsenkrebs sei das der Fall, jeder Patient sei ein Einzelfall, was den naturwissenschaftlichen Ansatz der Medizin, Systematik in Erkrankungen zu bringen, außer Kraft setzt.

Auch Zeit ist ein Faktor. Wenn körpereigene Zellen zu Krebszellen mutieren, lösen sie eine Art Kettenreaktion aus und entwickeln ein Eigenleben, das wiederum eine ganze Kaskade zellulärer Ereignisse nach sich zieht. Wenn Patienten ins Spital kommen, sind viele Prozesse im Körper bereits passiert. Zwar bemühen sich die Krebsforscher, zu entdecken, was am Anfang der Entwicklung gestanden sein könnte, also eine Art Ursprungszelle ausfindig zu machen, allerdings gibt es kaum Resultate.

Onkogene Treibermutationen

Ein Ansatz, der sich bei fortgeschrittenem Krebs als erfolgreich erweist, nutzt das gestiegene Wissen um die Tumorgenetik. Danach lassen sich bei immer mehr Krebsarten bestimmte Mutationen und Genveränderungen erkennen, sogenannte onkogene Treibermutationen, die eine entscheidende Rolle spielen.

Es gibt Mutationen, die schwerwiegend sind, also Driver für die Krebsentwicklung, und andere, die eine untergeordnete Rolle haben, und Passenger-Mutationen genannt werden. Sie spielen nicht nur bei einer spezifischen Krebsform, sondern bei unterschiedlichen Tumorerkrankungen eine Rolle. "Das hat massive Auswirkungen auf das Design von Medikamentenstudien und wird Therapien verbessern", ist sich Pfizer-Manager Penk sicher und prognostiziert, dass es auf dem ECC und in den nächsten Jahren eine ganze Reihe neuer Einsichten geben wird.

Genetische Rädelsführer

"Die genetische Landschaft eines Tumors erforschen", nennt es Heinz-Josef Linz, deutscher Onkologe an der Universität von Southern California in Los Angeles und sieht in Untersuchungen der RNA, also der Übersetzung von DNA in Eiweiße, einen vielversprechenden Weg. "Damit werden Entwicklungen nachvollziehbar", sagt er. Ganz sicher hänge es nämlich nicht von der Größe eines Tumors bei der Diagnose ab. "Auch ein winziger Tumor kann, wenn er bösartig ist, ein Riesenproblem sein. "Wir verstehen vieles noch nicht, etwa warum Dickdarmtumoren auf der linken Körperseite besser auf Medikamente reagieren als auf der rechten."

Besonders bösartige Tumore wie der Bauchspeicheldrüsenkrebs brauchen nicht einmal Sauerstoff, um zu wachsen. Das macht die Behandlung schwierig, weil Medikamente gar nicht zu den Tumorzellen gelangen können. Hypoxie ist der Fachbegriff dafür. Auch das ist eine Front für Pharmafirmen wie Merck, die diese Barrikaden medikamentös niederzureißen versuchen. Krebs ist kompliziert, daran wird sich in den nächsten Jahren nichts ändern, und Fortschritt wird nur ein Prozess der kleinen Schritte sein. (Karin Pollack, 26.9.2015)