STANDARD: Sie werden in Wien zum Thema "Leistung, Elite und Chancengleichheit in der Schule" referieren. Ist die Schule ein Ort, an dem Leistung zählt?

Hartmann: Ja sicher zählt da Leistung, weil nur aufgrund des schönen Aussehens oder der Herkunft wird man es nicht schaffen, hohe Bildungsabschlüsse zu erreichen. Man muss schon die geforderten Leistungen in der Schule erbringen, aber – und das wird meistens nicht berücksichtigt – die Voraussetzungen, um Leistung zu erbringen, sind sehr unterschiedlich je nach sozialer Herkunft. Und, das wird noch seltener berücksichtigt, die Messung von Leistungen ist ebenfalls sehr stark von sozialer Herkunft beeinflusst. Kinder aus Akademikerfamilien haben es nicht nur leichter, die geforderten Leistungen zu erbringen, sondern diese werden von Lehrkräften auch besser bewertet als die von Kindern aus anderen Familien.

Man kennt einander und erkennt einander: Wer auf einem Chefsessel in der Privatwirtschaft Platz nehmen darf, kommt nicht nur wegen seiner Leistung dorthin. Vier von fünf Spitzenmanagern kommen aus den oberen dreieinhalb Prozent der Bevölkerung – seit Jahrzehnten unverändert.
Illustration: Simon Klausner

STANDARD: Wie ist in der Schule Chancengleichheit zu fördern?

Hartmann: Der strukturelle Ansatz wäre, Entscheidungen über bestimmte Schulwege so spät wie möglich zu treffen. Die internationale Forschung ist sich einig, dass frühe Weichenstellungen, wie sie in Deutschland und Österreich nach der Grundschule getroffen werden, für Kinder, die von zu Hause nicht so übermäßig viel Bildung mitbekommen haben, immer von Nachteil sind. Frühe Weichenstellungen erhöhen die soziale Selektivität. Die zweite Maßnahme wäre, Lehrkräfte darauf aufmerksam zu machen, dass ihr Blick auf Leistung auch durch ihre eigene Herkunft oder die Maßstäbe, die sie im Studium vermittelt bekommen haben, beeinflusst wird. Allein die Tatsache, zu wissen, dass dieselbe Leistung bei Akademikerkindern deutlich besser bewertet wird als bei Kindern aus Arbeiterfamilien, führt zumindest bei einem Teil der Lehrkräfte dazu, dass sie darüber nachdenken und sorgfältiger hinsehen.

STANDARD: Sie sind Elitenforscher. Welche Rolle spielt denn eigentlich Leistung dabei, "Elite" zu werden? Haben wir überhaupt Leistungseliten in unserer Gesellschaft?

Hartmann: Nein, Leistungseliten meint ja, dass Leistung das einzige Kriterium ist, um diese Position zu erreichen. Leistungseliten in dem Sinne haben wir, wenn man von einzelnen Sportarten absieht, eigentlich nirgendwo. In den wirklichen Elite- und Machtpositionen ist das immer eine Mischung aus verschiedenen Kriterien. Es gibt Bereiche, wo Leistung eine größere und wo sie eine geringere Rolle spielt. Zum Beispiel kann man in der Wissenschaft, obwohl es auch da nicht so simpel ist, doch sagen: Okay, da hat jemand eine bahnbrechende Erkenntnis gemacht. Das ist eine Leistung.

STANDARD: Nehmen wir das Beispiel Wirtschaft. Ihr Forschungsschwerpunkt waren ja vor allem Wirtschaftseliten. Wie wird dort Leistung definiert?

Hartmann: Die Leute müssen schon etwas können. Man wird heute in fast allen Sektoren kaum jemanden finden, der kein Hochschulstudium abgeschlossen hat, und das kann man nicht, wenn man nicht bestimmte Leistungskriterien erfüllt. Man kann nicht einfach mit Bluffen und schönem Aussehen ein Studium abschließen. Dann müssen sie auch in den meisten Positionen sehr hart arbeiten. Das sind alles Leistungskriterien, aber dann kommen eben die anderen Kriterien dazu.

STANDARD: Welche sind das?

Hartmann: In der Wirtschaft ist das sehr stark die Ähnlichkeit mit denen, die da schon sitzen. Anders als in der Politik, wo gewählt wird, ist es ein sehr kleiner Personenkreis, der darüber befindet, ob Sie der Passende sind oder nicht. Da gibt es einen großen Unterschied zwischen öffentlichen und reinen Privatunternehmen. In meiner letzten Untersuchung vor zwei Jahren hat sich gezeigt, dass über vier von fünf Spitzenmanagern in den Privatunternehmen aus den oberen dreieinhalb Prozent der Bevölkerung – Großbürgertum und Bürgertum – stammen. Das ist seit Jahrzehnten so. In den öffentlichen Unternehmen hingegen gibt es sogar ein leichtes Übergewicht von Aufsteigern aus Mittelschicht und Arbeiterschaft.

STANDARD: Warum ist das so?

Hartmann: Das hat damit zu tun, dass in den öffentlichen Unternehmen die Kriterien, wer der Richtige am richtigen Platz ist, seit Jahrzehnten andere sind, weil die Politik immer eine große Rolle gespielt hat. Da ist eben Parteienproporz und Ähnliches, und gemeinhin heißt es dann, na gut, da kommen nicht die Besten hin, sondern die mit dem richtigen Parteibuch. Aber auch in den Privatfirmen ist nicht gesagt, dass da die Besten hinkommen, sondern da kommen die hin, die denen ähneln, die schon oben sitzen, und das sind eben immer Kinder aus dem oberen Bevölkerungsbereich, die einander erkennen und sagen: Ich bin der Richtige, und jemand, der mir so ähnlich ist, ist dann auch der Richtige. Dieser deutliche Unterschied zwischen privaten und öffentlichen Unternehmen zeigt, wie stark der Einfluss von nicht leistungsgebundenen Kriterien ist, denn die Unternehmen als solche, Energieversorger, Logistikunternehmen oder im Finanzbereich, unterscheiden sich ja nicht gravierend.

STANDARD: Sie sagten auch: "Die Politik ist noch die durchlässigste Elite." Was heißt das?

Hartmann: In der Politik ist die Chance für soziale Aufsteiger am größten, weil die Tatsache, dass man gewählt wird und es Parteiorganisationen gibt, in der Regel dafür sorgt, dass Leute eine Chance haben, auf der berühmten Ochsentour nach oben zu kommen. Anders als in der Wirtschaft, wo sie schon im mittleren Bereich sehr schnell an eine gläserne Decke stoßen. Die gilt ja nicht nur für Frauen, sondern auch für soziale Aufsteiger. Man muss identifiziert werden als High Potential, und das funktioniert über das Prinzip der sozialen Ähnlichkeit.

STANDARD: Von Ihnen stammt auch der Satz: "Elite kann man kaum lernen" – muss man auf dem Weg nach oben mit Tarnen und Täuschen arbeiten?

Hartmann: Man kann nicht tarnen und täuschen. Sicher gibt es das hin und wieder. Ein Vorstand sagte mir einmal: Wenn Sie aussehen wie Robert Redford, das reicht für zehn Jahre, aber für mehr auch nicht. Irgendwann müssen Sie auch die Leistungskriterien erfüllen und zeigen, dass Sie auch das übliche Geschäft beherrschen. Man kann vielleicht in manchen Sachen täuschen, aber dieses Auftreten, diese habituelle Ähnlichkeit kann man nur kurzfristig übertünchen, aber das fällt sehr schnell auf.

STANDARD: In welcher Form?

Hartmann: Zum Beispiel Unsicherheiten, wenn man nicht weiß, was ist in einer Umgebung richtig oder falsch, oder so eine Selbstverständlichkeit im Umgang, nicht zu sehr auf den Putz hauen, aber auch nicht sklavisch an allen Vorgaben kleben, weil man weiß, was geht. All das setzt voraus, dass Sie die Verhältnisse relativ gut kennen, und wenn Sie das mit Täuschen oder Nachahmen versuchen, fällt das in den meisten Fällen auf und wirkt dann eher negativ. Gegenüber jemandem, der das erst gar nicht versucht, hat man dann keinen Vorteil, sondern häufig sogar einen Nachteil.
(Lisa Nimmervoll, 7.12.2015)