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Wer dem amerikanischen Kinderarzt Robert Lustig glaubt, muss sich ernsthaft Sorgen machen. Der Ernährungsexperte von der University of California in San Francisco warnt vor einem Genussmittel, das wir alle lieben, weil es so verführerisch süß schmeckt. "Zucker ist Gift!", behauptet Lustig. Er meint das völlig ernst.

Dass zu viel Schokolade oder Gummibärchen den Zähnen nicht guttun, weiß jedes Kind. Und wohl niemand würde behaupten, dass Zuckerwatte und Cornetto beim Abnehmen helfen. Robert Lustig aber hält Karies und Gewichtsprobleme nur für die Spitze des Eisbergs.

Er macht Zucker auch für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes vom Typ 2 und sogar vieler Krebsarten direkt verantwortlich. Sein Vortrag "Zucker: die bittere Wahrheit" wurde auf YouTube bereits mehr als fünf Millionen Mal angeklickt. Viele Fachleute in Europa berufen sich auf seine Studien und Einschätzungen. Doch stimmt, was Lustig behauptet, wirklich?

Immer mehr, immer süßer

Unstrittig ist, dass sich der weltweite Zuckerkonsum seit den 1960er Jahren verdreifacht hat – auf sagenhafte 165 Millionen Tonnen pro Jahr. Im selben Zeitraum kam es zu einem Anstieg bei Fettleibigkeit, Diabetes und Herz-Kreislaufstörungen. Im März dieses Jahres hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) daher die als unbedenklich geltende Menge Zucker von 50 auf 25 Gramm (etwa sechs Stück Würfelzucker) pro Tag gesenkt.

Doch die neue Richtlinie scheint schwer umzusetzen. In Österreich ergab eine Untersuchung, dass zum Beispiel Jugendliche im Alter von 13 bis 17 Jahren 20 Prozent der täglich zugeführten Energie allein in Form von gezuckerten Getränken konsumieren. Das entspricht etwa 128 Gramm (32 Stück Würfelzucker) – mehr als dem Fünffachen der von der WHO empfohlenen Höchstmenge. Und der Zucker aus fester Nahrung ist dabei noch nicht einmal mit eingerechnet.

"In den letzten Jahren ist der Zuckerkonsum in Österreich weiter angestiegen", sagt der Kinderarzt Kurt Widhalm, Präsident des Österreichischen Akademischen Institutes für Ernährungsmedizin in Wien.

Eine Folge des Lifestyle

Hinzu komme Bewegungsmangel: stundenlanges Sitzen vor Computerbildschirm oder Fernseher und kaum Sport. Eine fatale Mischung. "Der hohe Zuckerkonsum ist unbestritten an der Entstehung vieler ernährungsabhängiger Erkrankungen beteiligt", betont Widhalm. Insbesondere bei Übergewicht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck und Diabetes spiele Zucker nachweislich eine zentrale Rolle.

Die neue Empfehlung der WHO sei sehr streng, räumt Widhalm ein. "Aber mehr als zehn Prozent der täglich zugeführten Energie sollte Zucker in der Tat nicht ausmachen." Also etwa 64 Gramm (oder 16 Stück Würfelzucker).

Es geht dabei nicht nur um Schokolade oder Linzertorte. Nicht zuletzt falle "versteckter Zucker" ins Gewicht, wie er in vielen salzigen Fertigprodukten enthalten sei, betont der renommierte schweizer Kinderarzt Raoul Furlano, Leiter der Abteilung Pädiatrische Gastroenterologie und Ernährung am Universitäts-Kinderspital in Basel.

Zu faul zum Kochen

Gerade in den letzten Jahren habe der Verzehr von sogenanntem Convenience Food – also etwa Fertig-Lasagne oder Gulasch aus der Tiefkühltruhe – in ganz Europa deutlich zugenommen. "Die oft sehr ungünstige Zusammensetzung solcher Lebensmittel trägt stark dazu bei, dass immer mehr Salz, Fett – und eben Zucker konsumiert werden", so Furlano. Kurt Widhalm pflichtet ihm bei. "Convenience-Produkte tragen auch in Österreich ganz klar zum Problem der Überversorgung mit Zucker bei", sagt der Wiener Ernährungsmediziner.

Selbst die krebsfördernde Wirkung, die der US-Mediziner Robert Lustig Zucker zuschreibt, scheint nicht aus der Luft gegriffen. 2004 hat eine breit angelegte Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ergeben, dass Menschen, die übergewichtig oder zuckerkrank sind, eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, an Krebs zu erkranken, als Menschen, die weder zu dick noch Diabetiker sind.

Dennoch relativiert Widhalm das Zucker-Bashing seines berühmten amerikanischen Kollegen: Zucker sei kein Gift, betont der Wiener Ernährungsfachmann. Zu viel davon könne aber zu Übergewicht beitragen – was dann in der Tat das Risiko für viele Krankheiten erhöhe. Und wusste nicht bereits Paracelsus, dass alles giftig – und nichts giftig ist? "Nur die Dosis macht das Gift", schrieb der berühmte Medizin-Pionier im 16. Jahrhundert.

Unlängst wiesen Forscher aus den USA jedoch in einer breit angelegten Studie nach, dass zu viel Zucker auch dann das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöht, wenn man nicht übergewichtig ist.

Auch in salzigen Speisen

Das Problem: Zucker ist fast überall. Essiggurken enthalten Zucker, Räucherlachs, Fertigpizza – und sogar Salzstangen. Wer sogenanntes Fruchtjoghurt isst, verzehrt in Wahrheit fast doppelt so viel Zucker wie Früchte. Bei manchen Packerlsuppen kommt man pro Schale auf mehrere Zuckerwürfel. Und gesüßte Frühstücksflocken können gar bis zu 37 Prozent Zucker enthalten – so viel wie Schokolade-Kekse. Die Folgen sind offensichtlich: Im Jahr 2005 waren in Österreich 28 Prozent der Buben und 25 Prozent der Mädchen im Alter von 6 bis 18 Jahren übergewichtig oder adipös sind.

Neuste Statistiken aus der Schweiz unterstreichen, wie früh die Gewichtsprobleme auch in den Nachbarländern oft beginnen: Jedes siebte Kindergartenkind in Zürich, Basel und Bern ist zu schwer. In der Grundschule kämpft in diesen Städten jeder fünfte Schüler mit Gewichtsproblemen – und in der Oberstufe bereits jeder vierte. Raoul Furlano wundert das nicht.

"Isst jemand permanent viel Süßes, tritt eine Gewöhnung ein, so dass er immer mehr Süßes braucht", sagt der Basler Kinderarzt. "Man kann also regelrecht eine Sucht nach Süßem entwickeln." Doch weshalb sind wir so gierig nach Zucker? Weshalb strahlen bereits Babys, wenn man ihnen etwas Süsses in den Mund steckt?

Falsche Signale

Experten sehen die Gründe in der Evolutionsgeschichte des Menschen. Schmeckt etwas süß, so ist das in der Natur ein Signal dafür, dass diese Substanz kalorienreich und ungiftig ist. In der Frühzeit war es ein Glücksfall, wenn man auf einen so nahrhaften Leckerbissen stieß, und man konnte sich ohne Bedenken damit den Bauch vollschlagen.

Denn oft war danach wieder lange nichts Vergleichbares verfügbar. Das Problem: Bis heute sendet der menschliche Körper keine Signale, die ihn vor zu viel Zucker schützen würden – obwohl an jeder zweiten Ecke Kalorienbomben wie Muffins oder Cola locken.

Es gibt noch einen weiteren Grund dafür, dass Zucker Appetit auf immer mehr Zucker macht: Fette, Proteine und viele Kohlenhydrate müssen in Mund, Magen und Darm erst stundenlang in ihre Bestandteile zerlegt werden, bevor sie ins Blut und von dort etwa zu den Muskeln gelangen, um diese mit Energie zu versorgen.

Währenddessen melden Botenstoffe dem Gehirn: "Sättigung erreicht: keine weitere Nahrungszufuhr nötig!" Zucker dagegen schießt ohne Umwandlung über den Darm ins Blut – und schon kurz darauf hat man wieder Heißhunger. Man futtert immer weiter, und die überflüssigen Kalorien werden als Fett gespeichert.

Billiges Konservierungsmittel

Sowohl für die Lebensmittelindustrie, als auch beim Backen zu Hause, bietet die verlockende Kalorienbombe aber auch Vorteile. Zucker ist billig. Und er ist ein erstklassiger Geschmacksverstärker. Darüber hinaus hilft Zucker dabei, Nahrungsmitteln Festigkeit zu geben, er dient also auch als Stabilisator.

Das setzt Ersatzstoffen Grenzen. Stevia etwa, eine Pflanze aus Südamerika, die rund 350 Mal süßer als Zucker ist, hat keine Kalorien. Um Volumen zu erzeugen wird Stevia-Pulver aber durch sogenannte Füllstoffe angereichert: zum Beispiel das Kohlenhydratgemisch Maltodextrin, das so nahrhaft ist, dass es Bodybuilder als Kraftfutter verzehren. Und auch andere Alternativen haben ihre Tücken.

"Wer gegen Karies vorbeugen möchte, sollte bei Kaugummis selbstverständlich auf zuckerfreie Produkte setzen", sagt Furlano. In größeren Mengen aber können Sorbit und andere künstliche Süßstoffe Durchfall auslösen.

Fruktose und Fettleber

Das erscheint harmlos gegenüber den Verdachtsmomenten, die es inzwischen gegen Fruktose gibt: Noch vor wenigen Jahren empfahlen Ernährungsexperten diese Substanz, die aus Mais gewonnen und in industriell hergestellten Lebensmitteln wie Fertigsalatsaucen oder Limonaden verwendet wird, als gesünderen Ersatz für Haushaltszucker.

Inzwischen aber haben Studien gezeigt, dass Fruktose zu einer Verfettung der Leber führen kann. Im Gegensatz zu Glukose, dem zweiten Hauptbestandteil von Haushaltszucker, wird sie nämlich ausschließlich in der Leber abgebaut, wo sie sich in Form von Fett ansammelt. Und zu viel Fett in der Leber begünstigt die Entstehung von Diabetes Typ 2. "Fruktose ist mit Sicherheit nicht gesünder als Zucker", sagt auch der Wiener Kinderarzt und Ernährungswissenschaftler Kurt Widhalm. Die meisten anderen Alternativen zu Zucker seien aber tendenziell unbedenklich.

Auf Zucker ganz zu verzichten ist fast unmöglich. Alle Fachleute sind sich jedoch einig, dass man den Konsum möglichst niedrig halten sollte – schon wegen der vielen Kalorien. Leider enthalten aber teilweise bereits Babynahrungen versteckte Zuckerquellen und sogenannte Kinder-Lebensmittel fallen auch immer wieder wegen ihres Zuckergehalts auf.

Leere Kalorien

Einige konkrete Tipps zum Umgang mit Zucker können die Fachleute geben: Besonders schädlich wirke sich der regelmäßige Konsum von Limonaden oder Fertig-Eistee aus. "Solche Süßgetränke sind regelrechte Kalorienbomben und tragen stark zur Entwicklung von Fettleibigkeit bei", sagt Furlano.

Denn sie enthalten besonders viele "leere Kalorien", die kaum zur Sättigung und Versorgung mit Nährstoffen beitragen. Experten betrachten Limonaden daher als Süßigkeiten. Als Durstlöscher empfehlen sie Wasser. Wer als Begleitgetränk zum Mittagessen Limonade wähle, solle daher am besten auf die Nachspeise verzichten.

Darüber hinaus empfehlen Ernährungsmediziner wie Kurt Widhalm, möglichst selbst zu kochen – schon weil Fertigspeisen unerwartet hohe Mengen Zucker enthalten können. Und selbstverständlich sei es gesünder, Naturjoghurt mit frischen Früchten zu genießen, als sehr zuckerhaltiges Fruchtjoghurt.

Maßnahmen setzen

Es brauche etwas Zeit, sagen Fachleute, aber man könne sich die Gewohnheit, süß zu essen oder zu trinken, wieder abgewöhnen – zumindest teilweise. Dabei helfe es, die Zuckermenge in selbst zubereiteten Speisen schrittweise zu reduzieren und Fruchtsäfte immer stärker zu verdünnen.

Konsumentenschützer aus Deutschland und der Schweiz fordern stattdessen politische Maßnahmen. Der aus dem Ruder gelaufene Zuckerkonsum belaste, ähnlich wie das Rauchen, das Gesundheitssystem – und damit die Steuerzahler – erheblich, rechnen sie vor. Und erst seit in öffentlichen Räumen Rauchverbot gelte, gehe die Zahl der Raucher generell zurück.

Ein Zuckerverbot in Restaurants und Cafés scheint unrealistisch. Denkbar wären aber etwa Werbeverbote für Lebensmittel, die viel Zucker enthalten – insbesondere für Produkte, die sich an Kinder richten. Dringend erforderlich scheint den meisten Experten zumindest eine klarere Kennzeichnungen auf Produktverpackungen: zum Beispiel eine "rote Ampel" bei besonders hohem Zuckeranteil.

Strafsteuern für Hersteller

Doch manchen Kritikern geht das alles nicht weit genug. Sie verweisen auf Mexiko, wo seit 2013 eine Strafsteuer auf viele Fast-Food-Gerichte, Süßigkeiten und Softdrinks erhoben wird. Der berühmte britische TV-Koch Jamie Oliver fordert bereits ähnliche Schritte für Großbritannien.

In Österreich seien Rufe nach einer "roten Ampel" auf den Verpackungen stark zuckerhaltiger Produkte oder gar nach eine Zuckersteuer bisher nicht laut geworden, sagt Kurt Widhalm. Er halte es aber für an der Zeit, dass auch hierzulande eine Debatte darüber beginne, so der Präsident des Österreichischen Akademischen Institutes für Ernährungsmedizin in Wien. "Aus meiner Sicht wären solche Schritte zu überlegen." (Till Hein, 17.1.2016)